Absturz
nein. Anders. Liebe Frau Direktor! Werte Festgäste! Geschätzte Damen und Herren!
Lassen Sie mich anlässlich der Verleihung des Skraup-Preises ein paar Worte … die Rückenschmerzen sind unerträglich, Josef, Preis hin, Preis her, ich muss mich niedersetzen. Wenn wir jetzt die Rettung rufen, wäre das ein Vernichtungsschlag gegen das Theater! Wir sind heillos unterversichert!
Alle großen Häuser haben gern große Schauspieler in kleinen Rollen. Aber für große Schauspieler ergibt sich nur in großen Rollen zusätzliches Wachstum. Ich warte jetzt noch bis Februar, Josef, danach nicht mehr. Unfassbar, wer bei den Spielplänen und Besetzungslisten alles mitreden will. Das Volkstheater ist nicht wirklich eine Bombe, Josef!
Charlie Chaplin oder Hitler , Goebbels oder Der Hauptmann von Köpenick : Es ist immer die Frage, wie man es macht und wer es macht und warum man es macht – und wie man es vermarktet: Settembrini spielt Schopenhauer! Sie müssen ihn heute kennenlernen. Morgen kennen ihn alle! Goebbels, gut, aber eben eine Nebenrolle letzten Endes. Die Schmerzen sind selbst im Sitzen kaum noch auszuhalten. Man könnte ja im Haus wenigstens wegen eines Schmerzmittels fragen. Nach der Premiere war eine Schriftrolle auf dem Schaukasten vor der U-Bahn-Station geklebt, mit der Aufschrift Ein rauschender Erfolg! . Erfolge rauschen nicht, habe ich gesagt. Daraufhin hat man die Aufschrift abgeändert in Ein tosender Erfolg! Irgendwann einmal gibt man auf. Ich frage mich, warum eigentlich zum Beispiel Sie nie Depressionen haben, Josef.
Die Aussicht auf den Hauptmann von Köpenick , die hält mich am Leben. Wenn Sie ein Fahrrad kaufen, Josef, dann nur ein Scott-Fahrrad, hören Sie, und achten Sie darauf, dass es nicht das billigste Modell ist. Immer das Teuerste nehmen, Josef, das macht sich langfristig bezahlt. Wenn Sie eine Gitarre kaufen, dann nur eine Washborn: Nur die türkis lackierte Mahagonigitarre! Nicht den ortsüblichen Sperrmüll! Paco de Lucia spielt sehr gerade.«
Paco de Lucia sagt dem Bühnenarbeiter nicht wirklich etwas. Das ganze Gespräch lang denkt er sich seinen Teil und lässt Herrn Settembrini reden, und sein Teil, das ist der baldige Dienstschluss und seine Frau, die daheim auf ihn wartet. Aber so viel versteht Josef doch, dass Settembrini jetzt auf die Musik zu sprechen gekommen ist, und da erlaubt er sich den Hinweis, dass die Tante der Freundin seiner Frau ins selbe Fitnessstudio geht wie die Cousine von Peter Cornelius, was, wenn schon sonst nichts, so immerhin beweist, dass die Welt klein ist, wodurch wiederum Settembrini auch zu Peter Cornelius etwas zu sagen hat. Der sei nämlich allen Ernstes ein begnadeter Musiker, aber kaputt gemacht, über Jahre systematisch kaputt gemacht, zum Schrott gezwungen und vom Schrott zerfressen. Immerhin aber habe Settembrini von Peter Cornelius gelernt, dass man jeden einzelnen Ton lieben müsse.
»Verstehen Sie, Josef: Buchstäblich jeden einzelnen Ton! In Hamburg sind Dreiundzwanziguhrvorstellungen eine Selbstverständlichkeit. Der Dreiundzwanziguhrtermin ist in Hamburg sogar noch beliebter als der Einundzwanziguhrtermin. Lassen Sie mich anlässlich … nein, anders. Ich hätte morgen die Röntgenaufnahmen abholen sollen. Jetzt kann ich gleich neue machen lassen. Sagen Sie, Josef, haben Sie noch Erstemaigefühle?«
Was antwortet man auf eine solche Frage? »Wissen Sie, Herr Settembrini, man weiß ja, was sich gehört. Man weiß ja, woher man kommt, und man kann nie wissen, was nicht noch alles passiert, jetzt wo alles härter wird.« Und dann fällt Josef wieder sein nahender Dienstschluss ein, er transportiert ihn aber in landesüblicher Weise mit dem Konjunktiv: »Ich hätte dann Dienstschluss, Herr Settembrini!«, sagt er, »wenn Sie erlauben«, als hätte der eine das Recht, eine solche Erlaubnis zu erteilen, der andere die Verpflichtung, diese Erlaubnis abzuwarten, auch wenn Schauspieler in dieser Stadt natürlich eine ganz besondere Rolle spielen und ein Skraup-Preisträger kein Nicht-Skraup-Preisträger mehr ist. Was er denn nach Dienstschluss mache, fragt Settembrini. Was wird der Josef schon machen? Was wird Josef schon antworten? »Fernsehen«, antwortet er und telefoniert um Hilfe. Eine Bahre ist im Haus ja bei den Requisiten vorhanden, das trifft sich ausgezeichnet, denn auf der Bahre, auf der man während der Vorstellung einen Simulanten, einen eine in seiner Rolle vorgeschriebene Verletzung simulierenden Schauspieler
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