Absturz
Ende, und unaufhörlich hast du das Wort Isolierzimmer vor Augen. Pascal sagt, alles Unglück des Menschen entspringt daraus, dass er nicht fähig ist, in einem Isolierzimmer zu sitzen. Pascal wurde nur neununddreißig Jahre alt. Für einen Augenblick verlierst du die Angst um Papa und es ist dir nach Weltgericht zumute, nach Verwüstung, Zerstörung und Zertrümmerung. Aber als der eine Augenblick vorbei ist, kehren die Panikattacken zurück, und es bleiben nur noch Angst und Panik. Dich fröstelt. Du zitterst, du hast weiche Knie, du würdest ein Königreich dafür geben, dich jetzt einfach aufzulösen. Viele Jahre später kommt irgendwer aus dem Isolierzimmer heraus, der ist laut dem Schild auf seiner Brust ein Arzt. »Sind Sie die Angehörigen?« Angehörige , allein das Wort eine Drohung. Wie schlimm muss es stehen, wenn man einmal ein Angehöriger ist! Im einen Augenblick Angehörige , im nächsten Hinterbliebene . Die Gattin ist grau, der Sohn ist grau, der Arzt stellt sich dazu und sagt: »Ein Hinterwandinfarkt zweifelsohne, mittelschwer. Wir haben ihn jetzt aufgemascherlt, wie wir sagen. Akute Lebensgefahr natürlich, das ist logisch, aber in Anbetracht der Umstände schaut es gar nicht so schlecht aus.« Und im großen Rahmen des großen Fortschritts sagt der Arzt, dass er sonst nicht viel sagen kann und dass er sonst nicht viel tun kann. Man muss jetzt abwarten. In ein paar Tagen wird man mehr wissen. Man wird sich jetzt öfters sehen. Das alles dauert ein Jahr, das alles dauert eine Sekunde.
»Jetzt reicht es!«, sagt Papa am nächsten Tag im Isolierzimmer der Intensivstation und will aufstehen. »Wie bin ich hier hergekommen? Was soll ich da? Hier hab ich nichts verloren! Ich gehe nach Hause.« Nach und nach ist Papa zu sich gekommen, und die neue Farbe in seinem Gesicht ist ein unverbindliches Lebenszeichen. In seinem Isolierzimmer wehrt sich der Vater gegen die Fütterungen und Tränkungen der Pfleger, er will sein Gebiss zurück. Sein Gebiss ist erstens Privatbesitz und gehört zweitens zu den Menschenrechten, sagt der Vater ohne Gebiss. Ohne Gebiss ist das Wort Gebiss gar nicht so leicht auszusprechen, das Wort Anwalt geht aber. Erbost wehrt er sich gegen die Medizin und die Mediziner und das Intensivgefängnis, ein Anflug von Schusswaffen in seinen Augen, Papa will nach Hause. Und Papa hat noch immer bekommen, was er wollte. Was sich Papa in den Kopf setzt, das passiert auch. Papa ist der Chef, immer und überall. Freiheitsberaubung!, brüllt er mit beiden Augen. Frau Grottenolm hat anderswo zu tun und zu tippen. Papa kämpft, Papa reißt sich von den Apparaten und Infusionen und Schläuchen los, wischt sich die Sauerstoffmaske vom Gesicht, und mit einem Bein ist er schon aus dem Krankenbett heraußen, da kommen die Pfleger plötzlich mit Blaulicht und Sirene und fesseln den Vater an Armen und Beinen ans Gitterbett. Papa ist unbescholten ein Leben lang, Papa will nach Hause. Es wird Abend. Alle gehen nach Hause. Papa nicht.
Am anderen Tag beantwortet Papa plötzlich keine Fragen mehr. Plötzlich reagiert er auf keine Anrede mehr, als wäre er auf die gesamte Außenwelt beleidigt von innen her, als wäre er in Streik getreten. So lasse ich mich nicht behandeln! Ich kann auch anders! Das habt ihr jetzt davon! Am anderen Tag spricht Papa in einer fremden Sprache. Die Sprache hat einen fürchterlichen Unfall erlitten. Ein Geistersprecher ist frontal in die Sprache hineingedonnert. Papas Sprache ist kaputt, zur Unkenntlichkeit zerbrochen. Keine Sätze mehr, nur Wörter, Wortfetzen, Wortstummel, herausgewürgt, herausgeächzt, herausgejault, herausgelitten, alles kaputt, bis in die Silben, in die Laute hinein. Papa! Warum hast du mich verlassen? Und wenn er jetzt denkt: Ich hab dich nicht verlassen, Bub! Du hast mich verlassen! Was dann? Die Worte Ruinen. Die Silben Ruinen. Die Laute Ruinen. Papa will was, aber er kann nicht sagen, was er will, Papa will nach Hause. »Das ist unrealistisch«, sagt der Oberarzt, »das wäre sein Todesurteil.« Und außerdem will er eine Zigarette. Dringend! Jetzt! Auf der Stelle! Der Oberarzt lächelt milde und schüttelt unmerklich den Kopf, verkneift sich aber einen Kommentar. Jetzt! Sofort! Auf der Stelle! Mein Leben ist mein Leben bis zum letzten Augenblick! Papa will sich verständlich machen, wie er sich immer selbstverständlich verständlich machen konnte, ganz energisch, wenn es sein musste. Warum soll das jetzt plötzlich nicht mehr
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