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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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jetzt ein Unterschenkel hervor, fast unbehaart. Der Unterschenkel sieht nicht wie ein sterbender Unterschenkel aus. Aber die Nieren fragen den Unterschenkel ja nicht, ob es ihm recht ist. Noch ist Papa eine erste Person und eine zweite, keine dritte. Noch bewegt sich etwas an ihm. Noch arbeitet es in ihm. Noch kämpft es in ihm. Noch wälzt er sich zwischen den Schläuchen, noch windet er sich, und niemand kann mit Bestimmtheit sagen, wovor. Dann verfällt er wieder in völlige Agonie und Bewegungslosigkeit. »Hat er Schmerzen?« »Kann man nicht sagen.« Kein Himmel im Isolierzimmer, keine Wolken, keine Sterne. Kein Tag im Isolierzimmer, keine Nacht. Kein Frühling. Keine Farbe. Kein Geruch. Nicht ein Hauch. Nichts Wachsendes im Isolierzimmer, nichts Lebendiges. Nur weiß verflieste Wände. Noch hat der Vater einen Körper, eine Hand. Noch hat der Vater ein Gesicht. Augen hat er nur noch selten. Zwei Wochen geht das jetzt so. Noch hat er sein Leben, noch, noch, aber es ist ein Lebenserhaltungsleben daraus geworden.
    Der Oberarzt ist auch wieder einmal da,  entschuldigen Sie schon! , er hat ja auch noch andere Fälle, andere Körper und außerdem die Fortbildung am Hals,  entschuldigen Sie schon , er ist rund um die Uhr von Sterbepornos umgeben. Und er fragt deine Mutter allen Ernstes, ob sich das Spalier der Kunst, die den Vater umzingelt, um nicht zu sagen  begräbt , noch auszahlt, ob solch ein Leben noch ein Leben und ob solch ein Leben noch lebenswert ist.  Papa! Papa!  »Auf Sicht werden wir uns etwas überlegen müssen«, sagt der Oberarzt der Gattin, und zusammenbrechend fragt die Gattin den Oberarzt, wie er das meint und was es da zu überlegen gibt. »Im Einvernehmen, gnädige Frau, alles im Einvernehmen!« Der Vater liegt da und starrt zum Plafond hinauf. Was an ihm lebt, ist Lebenswille, Wille. Der Wille will sich selbst. Abgeschaltet werden will der Vater nicht, der Vater will nach Hause, aber der Wille ist keine schulmedizinische Größe. Jetzt eine Zigarette im Einvernehmen. »Das Isolierzimmer ist in diesem Fall keine unbedingte Notwendigkeit mehr«, sagt der Oberarzt. »Die Kontrollapparate sind in dem Fall nicht mehr unbedingt erforderlich«, sagt er. Dass er das Bett braucht und auch noch andere sterben wollen, sagt er nicht. In dem Fall muss man die Organe beim Organversagen nicht mehr kontrollieren. Wenn das Gehirn nicht mehr will, machen die Organe ohnehin, was sie wollen. Anarchische Zustände! Ein Tollhaus im Körper! Die Pfleger rollen den Vater nach nebenan zu drei ihm Gleichen. Mutter steckt den Pflegern Geld zu.  Das wäre doch nicht notwendig gewesen.  Zwischen den Gleichen installieren Medizintechniker Medizintechnik und schwatzen. Ja, der Fortschritt ist unaufhaltsam. Es wird auch noch Fälle nach den Fällen geben. »Ein Herzschrittmacher zahlt sich in dem Fall nicht mehr aus«, sagt der Oberarzt der Gattin ins Gesicht, »und eine Operation wäre auch zu riskant. Eine Dialyse zahlt sich nicht mehr aus. Eine nochmalige Computertomografie zahlt sich nicht mehr aus. Einmal abgestorbene Gehirnzellen sind nicht mehr zu ersetzen«, sagt er, »Gehirnschädigungen sind irreparabel. Und wenn sie so massiv ausfallen wie hier …« Die bittere Wahrheit ist: Es zahlt sich überhaupt nichts mehr aus. Papa ist ausmediziniert. Papa!
    Anderntags. Noch. Anderntags. Noch. Alles dunkel. Nichts zu sehen. Nichts zu machen. Nichts zu hoffen. »Also dann machen wir eben noch eine Tomografie, in Gottes Namen. Gehirnblutung ist keine mehr nachzuweisen, da schau her.« Sagen kann man nichts. Machen kann man nichts. Man muss abwarten. Anderntags. Anderntags. Anderntags in der Früh ein Anruf aus dem Krankenhaus. Noch eine Herzattacke genau während der Visite. Die Atmung hat ausgesetzt. Wiederbelebung erfolglos. In zehn Minuten ist alles vorbei gewesen. Die Viertelstunde ist gekommen. Seit einer Viertelstunde klinisch tot.  Klinisch tot , sagt das Krankenhaus, als wäre das etwas anderes und als wäre da noch ein kleines Licht. Es ist aber kein Licht mehr. Das Krankenhaus wünscht Beileid. Die Mutter legt auf. Der Vater ist tot.  Papa ist tot. Papa.  Mutters Gesicht ein plötzlicher Vulkanausbruch aus tausend Kratern, eine Fratze aus Schmerz, entsetzlicher als alles. Du sinkst in dich zusammen, sprachlos. Keine Bewegung mehr. Kein Wille. Dritte Person für immer und den Rest des Lebens der Nachwelt.
    Das Leiden hat ein Ende. Der Leidende hat ein Ende. Das Leben der Lebenden geht weiter, das Leben

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