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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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dabei, hält die Hand des Vaters, dunkelblau vor Einstichen, sie streichelt die Stirn des dämmernden Gatten. Sie erzählt ihm schöne Geschichten aus seinem Leben, schöne Bilder. Sie sagt dem Gatten, dass er Geduld haben muss. Aus dem Gatten stöhnt es heraus. Ein wenig Geduld noch, dann wird alles gut, dann wird alles, wie es früher gewesen ist. Er würde jetzt gerne eine Zigarette rauchen. Der Oberarzt sagt, dass man nicht sagen kann, wann das Gehirn der Atmung den Befehl gibt, auszusetzen. Aber es ist eine Frage der Zeit. Es kann jede Viertelstunde passieren, und ein Priester wäre angebracht.
    Du liegst auf deinem Bett in einen Mantel aus Schweiß gehüllt und zusammengekauert wie ein Ungeborenes in seiner Mutter, aus allen deinen Körperöffnungen spritzt es heraus. Du bist am besten Weg zur Fehlgeburt. Strenger Frost in deinem Bett. Ein Pater kommt in die Intensivstation der Ersten Medizinischen und sagt, es ist ein Segen, wenn es schnell geht. Und er sagt, das Gehör setzt als Allerletztes aus. Aber der Pater ist ein Pater. Papa dämmert. Ein anderer Arzt kommt und sagt, als Nächstes höchstwahrscheinlich die Nieren. Oft macht die Niere Schluss. Papa war zeitlebens Herr über seine Nieren, jetzt nicht mehr. Nierenmeuterei. Papa war zeitlebens Herr seines Körpers, jetzt Opfer seines Körpers, jetzt fällt er dem Verbrechen seines Körpers zum Opfer. Papa windet sich.
    Anderntags ins Krankenhaus in das Isolierzimmer der Intensivstation. Lebt Papa noch, lebt er nicht mehr? Er lebt noch, noch, noch, heute gerade noch, mein Vater! Mein Fels! In meine Hände leg deinen Geist bitte nicht, Vater, ich bin zu schwach. In dir wuchert Aberglaube, und du bist wehrlos dagegen. Jeder deiner Handgriffe könnte etwas bedeuten. Jeder Handgriff könnte der falsche, ein tödlicher sein. Immer dieselben Schuhe wie gestern anziehen!, befiehlt dir deine innere Stimme, dieselbe Hose, dasselbe Hemd, denselben Mantel wie gestern. Denn gestern hat Papa noch gelebt. Gestern ist Papa nicht gestorben. Gestern wird die Katastrophe nicht mehr passieren können. Vielleicht lebt Papa heute noch, wenn du ihn besuchst. In derselben Parkplatzreihe wie gestern einen Parkplatz finden, sagt die Stimme, nur ja nirgendwo anders parken. Denn gestern hat Papa noch gelebt. Nur ja kein Risiko! Und wenn du keinen Parkplatz findest, musst du die Parkplatzreihe so lange auf- und abfahren, bis ein Parkplatz frei wird, und wenn es eine Stunde dauert. Das bist du ihm schuldig! Wehe, wenn nicht!, mahnt die Stimme. Der Vater bekommt von all dem nichts mehr mit. Alle Augenblicke tuten und läuten und piepsen die Apparate rund um ihn. Alle Maschinen melden in knallroter Leuchtschrift unaufhörlich:  Katastrophe!  Deine Mutter zuckt mit den Alarmen mit, mit jeder abstürzenden Kurve stürzt sie mit ab. »Sie halten das nicht durch!«, sagt ein Pfleger, »wir haben nichts davon, wenn Sie auch noch umkippen. Gehen Sie nach Hause!« Sie schaut ihn an, und ihr Blick sagt: Ich habe kein Zuhause mehr. Wieder ein Läuten. Woher? Wohin? Die Totenglocke? Nein, der Warenlift schräg gegenüber. Geh ein unter mein Dach, Nervenzusammenbruch! Er folgt nicht. Du hältst die Hand deines Vaters und streichelst über seine Stirn, aber du schaust nicht zum Vater hin, nicht in die Dämmerung hinein. Du flüchtest am Stand vor dem unerträglichen Anblick. Du schaust beiseite, als könntest du so alles einfach wegwischen. Du schaust auf den Boden hinunter. Du versuchst vergeblich, das monotone Röcheln zu beschwichtigen. Du sagst: »Nur ruhig, Papa, ganz ruhig, ganz ruhig!«, dann weinst du. Hinter den Tränen siehst du einen menschenleeren Palmenstrand in der Südsee, es ist warm und du liegst im weißen Sand und bist eins mit allem, und es gibt nichts mehr, was dich bedrängt. Das Rauschen des Meeres ermüdet dich und spendet dir Freiheit von allen Gedanken und nimmt dich leichthändig mit hinauf zu den Sternen. Ein anderer Arzt kommt und sagt, »in Anbetracht der Umstände ist sein Zustand jetzt relativ stabil, allerdings absolut schlecht, noch schlechter als stabil.« Ein anderer Pater kommt und sagt: »Man muss der Realität ins Auge blicken!«
    Anderntags ins Krankenhaus und durch die Grottenolme ins Isolierzimmer der Intensivstation,  ist  Papa noch, ist er nicht mehr? Noch ist er, anderntags, anderntags. Noch sind die Maschinen. Noch ist dazwischen versteckt im weißen Nachthemd Papas Körper. Wo genau da aber was stirbt, das ist unsichtbar. Unter der Bettdecke lugt

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