Absturz
tiefgefroren.
Viele sind gekommen. Der Sarg wird aus der Aufbahrungshalle in die Zeremonienhalle getragen und auf ein Podest gestellt. Du wirst angewiesen, in der ersten Reihe neben deiner Mutter Platz zu nehmen. Mystiker mit Lesebrillen tauchen den Sarg in Weihrauch und Latein, Trauermusik vom Tonband. Es gäbe viel zu sehen, aber du schaust nicht zu Papas Sarg hin. Du schaust auf den Boden hinunter und schreibst. Das heißt: Es schreibt in dir. Solange es in dir schreibt, kann dir nichts passieren, was immer auch passieren mag. Und dann wird der Sarg auf einen Karren gehoben, vor dem Sarg die Männer, hinter dem Sarg die Familie, hinter der Familie die Frauen. Der Zug geht los. Gorgias und du, ihr trottet den Särgen eurer Väter nach, Seite an Seite. Papas Sarg ist zum Greifen nahe, so nahe, dass man anklopfen oder ihn aufbrechen könnte. Aber Gorgias und du, ihr schaut die Särge gar nicht an. Ihr schaut zum Boden hinunter, der Kies ist absurd weiß, die Luft absurd warm, der Himmel absurd blau, kein Himmel mehr für Karmantidas und für Papa, die Mutter schluchzt. Gorgias stützt Penelope, du deine Mutter, und im Gehen flüstert ihr euren Müttern hinter den Särgen ins Ohr: »Mutter, es ist nichts!« Da ist ein Grab zwischen Gräbern, und dieses Grab, das Zeit deines Lebens verschlossen war und zu dem deine ganze Kindheit lang Papa mit dir gegangen ist, ist jetzt plötzlich ausgehoben und die Grube mit Holzbrettern umrahmt: eine umgefallene Theaterbühne. Ein schwarzes Loch im Universum. Eltern haften für die Kinder, die noch Eltern haben.
Noch einmal tun die Mystiker ihre Arbeit, und Papas Sarg wird mit Seilen tonlos in das Grab hinuntergelassen, unaufhaltsam, unwiderruflich, und Gorgias und du, ihr seht es nicht, ihr zwei Helden der Schöpfung schaut auf den Boden hinunter. Erstaunlich, wie wenig man von einer Beerdigung mitbekommen kann, wenn man es darauf anlegt; erstaunlich, wie radikal man das Wirkliche negieren kann. Und alle kommen an die Reihe, Erde auf Papas Sarg hinunterzuwerfen. Gorgias schaut in die Ferne über alle Gräber hinweg, und er denkt sich und er sagt sich, das Schäufelchen in der Hand: Ich verabschiede mich nicht von dir. Ich verabschiede dich nicht von mir. Weil du ihn nicht begraben, sondern beleben willst, wirfst du Papa statt des Schäufelchens Erde eine Zigarette ins Grab hinunter. Die letzte Zigarette. Spät aber doch. Die Schaufel reichst du ungeleert weiter. Und plötzlich spürt Gorgias eine große Leichtigkeit in sich hochsteigen, einen Wind, und der Sohn ist bestürzt darüber, aber dann bemerkt er mit einem Mal, woher die Leichtigkeit kommt: Sie kommt vom Grund des Grabes. Ein bisschen Papa ist plötzlich aus dem Grab und aus dem Sarg herausgeflogen und in den Sohn hineingefahren, in den lebenslänglich angerufenen und beschworenen Sohn seines Vaters , und das bisschen Papa im Sohn flüstert: »Ich bin es. Ich bin bei dir.« Und Gorgias ist leicht und geht und erzählt niemandem davon. Das Beileidsgebrabbel ringsum nimmt er nicht wahr, nur entgegen. Aber anderntags erwacht Gorgias, schaut in den Spiegel, stellt erschrocken fest, dass über Nacht zweitausendfünfhundert Jahre vergangen sind und er niemand anderer als du ist. Alles ist doch wieder nur ein Traum gewesen.
Als drei Jahre später der Gorgiasroman erscheint, seid ihr längst in die neue Wohnung im Elternhaus eingezogen. Du hast beim Verlag durchgesetzt, den Buchumschlag mit einer Kinderzeichnung Adrianas zu illustrieren. In deinem Selbstmuseum im Keller des Hauses hängt das Plakat für die Präsentation. Es waren fast so viele Leute wie zur Beerdigung gekommen. Settembrini hat später im Volkstheater daraus gelesen. Aber der Roman verkaufte sich trotzdem so schleppend, wie sich Romane eben verkaufen.
8
P apa war ein Mann des zwanzigsten Jahrhunderts. Er wäre viel eher als du, Jan Philipp Möller, berufen gewesen, Bilanz zu ziehen und das Ereignis des Jahrhunderts zu benennen, nach dem dich der Feuilletonchef der Presse im hundertsten und allerletzten November des zwanzigsten Jahrhunderts gefragt hat. Mondlandung und Hiroshima hatten schon andere Schriftsteller des Landes weggeschnappt, Flugzeug und Computer. Papa hätte dazu ohnehin mehr erzählen können als du. Nur haben ihm eben ein Jahr, neun Monate und vier Tage gefehlt. Er hat mit eigenen Augen gesehen, wie das allererste Automobil in die Stadt gekommen ist – aerodynamisch wie ein Kleiderkasten, der Motor mit einer Kurbel anzuwerfen:
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