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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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Man kennt diese Dinosaurier aus Stummfilmen. Wie stolz seine Mutter, deine Großmutter war, die erste Führerscheinbesitzerin im ganzen Land gewesen zu sein, hat er oft erzählt.
    Zweistellige Autokennzeichen, dreistellige, vierstellige, sechsstellige, zuletzt ein Faschiertes aus Ziffern und Buchstaben. Die erste Schotterstraße, die im Land asphaltiert wurde, war die Strecke am Nordufer des Sees entlang, und es war das Sonntagsvergnügen unseres Vaters und seiner Mutter, den ganzen Nachmittag lang immer wieder  auf Asphalt  von einem Seeende zum anderen hin und retour zu fahren. Papas letzter Wagen, mit Servolenkung,  ABS -System, Heckscheibenheizung und Zentralverriegelung, stand noch Jahre nach dem Tod seines Besitzers in der Garage und wartete auf einen, der nicht mehr kommen konnte. »Ich stehe in der Garage«, hat Papa oft gesagt, wie wir alle uns als Synonyme unserer Pkws zu verstehen gelernt haben, wie wir tatsächlich längst  Autos  geworden sind. Er ist zum letzten Mal im Stau gesteckt, als ihn die Rettung nach seinem Infarkt für immer von zu Hause fort in die Intensivstation transportiert hat. Bis zuletzt hat der Vater seinen ersten an Friedrich Nietzsche und Thomas Mann gemahnenden schwarzen Eisenklapperapparat aufbewahrt und auf den Schreibtischen der Söhne  PC s  und Faxgeräte wahrgenommen. In  einem  Haus nebeneinander Briefmarkensammlung aus der Monarchie, Internetadresse und E-Mails. Und er, dem Wörter wie  Verteiler ,  Vergaser ,  Benzinpumpe  noch etwas sagten und der ohne Weiteres die Funktionsweise eines Ottomotors erklären konnte, hat sich insgeheim wohl ein wenig gewundert, wie sich seine Nachgeborenen rund um die Uhr mit größter Selbstverständlichkeit von digitalen Maschinen bedienen lassen, von deren Innenleben sie genau genommen nicht das Geringste wissen. Dein Vater hat das erste Radio, das erste Fernsehgerät ebenso wie das erste Telefon der Stadt gesehen, benützt (zweistellige Telefonnummern, dreistellige, vierstellige, die letzte sechsstellig) und zuletzt, wenn schon kein mobiles, so immerhin ein schnurloses besessen. Und noch Jahre nach seinem Tod sprach am Anrufbeantworter seine krächzende Stimme:  Ich bin derzeit nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht!  Und auch eine Nachricht von ihm an seine Frau – erst Wochen nach seinem Tod zufällig gefunden und abgehört, ist noch immer nicht gelöscht:  Alles in Ordnung, mein Engel. Mach dir keine Sorgen! Ich bin bald zu Hause!  Irgendwer wird diesen Text irgendwann einmal löschen müssen, hat Jan Philipp Möller gedacht; er würde es aber bestimmt nicht tun. Jahre später hat ihm seine Mutter erzählt, sie konnte den Text ebenfalls nicht löschen. Löschen oder lassen: Beides war ihr unerträglich. Also hat sie eines Tages die Anrufmaschine mitsamt den letzten Worten ausgesteckt, eingepackt, am Dachboden verräumt – und sich einen neuen Anrufbeantworter gekauft. Ich denke, im Grund keine schlechte Lösung.
    Wohl oder übel und am eigenen Leib war dein Vater auch Zeuge des technischen Fortschritts in der Medizin, junger Mann.  Sein  Vater hat zu Lebzeiten bis zuletzt noch Angst vor Nervenfieber, Cholera und Diphterie gehabt.  Dein  Vater hat zuletzt schon Angst vor Aids und Alzheimer haben können – so wie du übrigens, junger Mann! Wenn das kein Fortschritt ist! Nach einer Gallenoperation im Jahr, in dem der letzte Besatzungssoldat die Republik verließ – damals eine Art Fleischhauerei großen Stils –, gaben ihm die Ärzte allerhöchstens sieben Jahre. Hätten sie recht behalten, du wärst niemals erschaffen, niemals geboren worden, junger Mann. Wir hätten uns unser ganzes Psychodrama hier erspart. Wir hätten ganz einfach nicht stattgefunden. Etliche Jahrzehnte später zwei Hightech-Prostataoperationen – gestorben ist der Urologe. Vier Hightech-Augenoperationen in einem einzigen seiner letzten Jahre – gestorben ist der Augenarzt. Ein Hinterwandinfarkt am Röntgenschirm – gestorben ist der Internist. So ist ihm bei allem Fortschritt, vom engsten Familienkreis abgesehen, nach und nach die Menschheit abhandengekommen, und er war als stummer Gast bei Expertenbeerdigungen sonder Zahl. In der Intensivstation schließlich, wo Papa die letzten vierzehn Tage seiner Existenz hilflos und ganz offenbar von seinem eigenen Schicksal angeekelt dem Tod entgegendämmerte, waren kaum noch menschliche Experten zu überleben; da war nur noch  Siemens. Elektrische Elegien.  Es wird eine

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