Absturz
geniert sich nicht. Die Stationsschwester händigt deiner Mutter das Gebiss deines Vaters, die Brille und die Filzpantoffel in einem Plastiksack aus. Was jetzt zu tun ist als Nachweltmensch: dunklen Anzug kaufen, schwarze Krawatte kaufen. Zur Bestattung gehen: die Aufbahrung besprechen und einen Begräbnistermin besorgen für den Menschen, der bis gestern gelebt hat ein dreiviertel Jahrhundert lang, für den Menschen, ohne den du nicht auf der Welt wärst und dadurch niemand. Der Mensch, ohne den es keine Welt gäbe, ist nicht mehr auf der Welt. Der Mensch, ohne den du nicht vom Himmel gefallen wärst. Den geologischen Entsorgungstermin besorgen für eine plötzlich endgültig dritte Person. Man muss sich jetzt Fragen stellen, die man sich nie gestellt hat: Was ziehen wir ihm an? Deine Mutter, seine Frau, wählt einen dunklen Anzug. Du liegst noch immer zerstört daheim im Bett und machst es wie immer: Wie alle Menschen verwandelst du deinen Vater, sodass er sofort auferstehen kann, wodurch er allerdings auch in deiner Welt wieder sterben muss: Papa heißt jetzt Karmantidas, von dem er, Papa, selbst niemals etwas gehört hat und der so um das Jahr 500 vor Christus gestorben ist. Karmantidas hat ebenso wirklich gelebt wie sein Sohn Gorgias, der vorsokratische Sprachphilosoph, der ebenso wirklich gelebt hat, wie du einmal wirklich gelebt haben wirst. Langsam, langsam taust du wieder auf. Du ziehst deinem Papa also keinen dunklen Anzug, sondern die marineblaue Toga an, die er immer so geliebt hat. Es ist wie immer: Kaum geht die Welt unter, taucht deine Welt auf. Das Leben geht natürlich auch nach dem Weltuntergang weiter, auch außerhalb deines Romans, 500 vor Christus, 2000 nach Christus, who cares? Sein oder Nichtsein, who cares? Standesamt, erster Stock, Bevölkerungswesen, Tür 104, Geburtenbuch, den Sohn in der Welt anmelden, Tür 105, Sterbebuch, den Vater aus der Welt abmelden, it’s just a jump to the left . Einen Partezetteltext aussuchen für den Menschen, der einen geschaffen und zum Menschen und zu etwas ganz Besonderem gemacht hat. Die Aphoristiker arbeiten im Voraus, Lagerverkauf. Die Toten haben sich den Sinnsprüchen anzupassen, basta. Adressen von Verwandten suchen, Kränze aussuchen für den Vater, Letzte Grüße! , einen Sarg aussuchen für den Vater. Er wollte immer Eiche. Da schau her! Das hast du gar nicht gewusst. Ebenso wie Gorgias kommst du nicht mit auf die Pathologie, um den Körper deines Vaters ein letztes Mal zu sehen. Du wolltest unter gar keinen Umständen, dass die Leiche deines Vaters die erste Leiche deines Lebens wird, jetzt, nachdem du deinen Schöpfer dein Leben lang als Nichtleiche erlebt hast. Fehlst du der Leiche? Hast du dem Sterbenden beim Sterben gefehlt? Wie gerne wäre er vielleicht in deine Hand hineingestorben? Möchtest nicht du auch eines Tages in die Hände deiner Kinder hineinsterben? Aber du? Warst – unpässlich! Du hast es verpatzt! Du bist, anstatt praktisch zu werden, immer noch zusammengekrümmt am Leintuch gelegen – die Übelkeit selbst. Es hatte sich mittlerweile zwar ausgespritzt. Aber alle Öffnungen deines Körpers waren entzündet. Du hast die Leiche deines Vaters nicht gesehen. Du hast die Leiche deines Vaters nicht geküsst. Du hast das Leben immer als etwas Unangenehmes betrachtet, über das man durch Rauchen hinwegkommen kann. Und wenn nicht einmal das Rauchen mehr hilft, dann eben eine Darmgrippe.
Da war statt Papa Papas Sarg wie in einer Tropfsteinhöhle: kein Körper mehr, keine Hand, keine Augen, kein Gesicht. Eher Möbelstück als Seele. Ein furchtbares Möbelstück. Kein Ton. Keine Stimme mehr. Kein Krächzen. Kein Laut. Die Ruhe nach dem Sturm, die Stille nach der Schlacht. Die Stimme gerät als Erstes in Vergessenheit. Und neben dem Sarg des Vaters ein Schild mit dem Namen des Vaters. Ganz ungewohnt und fremd, dass der Vater jetzt einen Namen hat, jetzt, wo er nicht mehr ist, neben meinem Sarg soll einmal ICH stehen, sonst nichts, denkt Gorgias, und zur Linken und zur Rechten des Sarges quillt es vor Blumen und Kränzen und Stille über. Zum Kotzen still. Zum Kotzen kühl. Und Gorgias ist dein Gewand. Blassgrüne Vorhänge rundum, hinter denen nichts ist als eine kahle weiße Wand. Im Nebenraum die Friedhofstoiletten. Die Kerzen werden immer länger, langstielige weiße Hartplastikkerzen mit elektrischem Licht, die Flammen flackern und züngeln nicht im Milchglastropfen, manchmal knistert leise der elektrische Strom, wie
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