Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
Vom Netzwerk:
interpretieren konnte, die Namen der Kinder durcheinanderbrachte und ihnen auch die Handhabung der mitgebrachten Tamagotchis nicht zu erklären wusste. (Die Kinder beteten allen Ernstes, verzweifelt und mit gefalteten Händen: »Lieber Gott, bitte lass unser Tamagotchi nicht verhungern!«) Dieser  verkleidete , dieser  falsche  Nikolaus aber hat mit seinem Wolkenbruchgesicht zwar  nicht schlecht  ausgeschaut, aber niemand hat es für wert befunden, seinetwegen eine Videokamera auszupacken. Er war, acht Monate nach der Verabschiedung vom verschlossenen Sarg, bloß der personifizierte, endgültige Beweis dafür, dass Papa wirklich gestorben war und bis zum Ende aller Tage nicht wieder auferstehen wird. An diesem Nikolotag hätte er sich, wie man sagt, im Grab umgedreht.
    Ein bosnischer Kriegsflüchtling, der Steinmetz in Sarajewo gewesen war und aus Furcht um sein eigenes Leben und das seiner Familie viel Arbeit in seiner Heimat unerledigt lassen musste, hat an einem heißen Julitag in Badeschlapfen auf dem frischen Erdhügel hockend den Namen deines Vaters in den Grabstein eingemeißelt. Der letzte Dienst, den du deinem Vater erweisen konntest, war, einen Rechtschreibfehler im Wort  Kommerzialrat  in der marmornen Ewigkeit zu verhindern. Einen Tag nach der Ausbesserung des Rechtschreibfehlers am Grabstein platzte Emmas Fruchtblase. Sie verbrachte Wochen liegend im Krankenhaus zwischen Leben und Tod des Fötus in ihr, bis dein Kind fünfundvierzig Tage nach dem Tod deines Vaters und fünfzig Meter Luftlinie vom Todesort des Vaters entfernt im Nebenhaus zwei Monate zu früh mit einem Kaiserschnitt zur Welt und in den Brutkasten gebracht wurde. Als es so weit war, dass die Ärzte sich zum Geburtseingriff entschlossen, hat man dich telefonisch verständigt, und du hast dich sofort wieder auf den Weg ins Krankenhaus gemacht. Den kanntest du mittlerweile auswendig. Diesmal war der Parkplatz egal. Aber anders als vorgesehen hat man dich beim Eingriff selbst doch nicht dabei sein lassen, und du musstest vor dem verschlossenen Kreißsaal warten. Vom Gang aus hast du in das Fenster des benachbarten Krankenhausgebäudes hineingesehen, hinter dem vor fünfundvierzig Tagen dein Vater gestorben war, ohne dass du dabei gewesen bist. Eine Viertelstunde. Eine Zigarette am Gang. Zwei Zigaretten. Eine halbe Stunde. Drei, vier, fünf, sechs Zigaretten. Eine Stunde. Wie lange dauert ein Kaiserschnitt? Es muss Komplikationen geben. Geduld haben. Sieben, acht. Nicht stören. Nicht einmischen. Man kann ja nichts tun. Neun, zehn. Links Papa, rechts Frau und Kind. Links eine Wand aus Zeit, rechts eine Wand aus Beton. Ob du anklopfst? Ob du dir die Hiobsbotschaft abholst? Hier ist ein Ort des Todes. Wer wohl gestorben ist: Frau oder Kind? Oder beide? Beide wären zu viel! Elf, zwölf. Wenn du es dir aussuchen kannst: Wer soll nach Papa noch dazusterben: Frau oder Kind? Du wärst dir ganz recht. Aber wie? Das ist doch die wichtigste Frage im Leben. Aber die beantwortet dir niemand. Dreizehn, vierzehn, fünfzehn Zigaretten. Eineinhalb Stunden. Jetzt ist es Gewissheit: Jetzt ist es aus. So lange dauert kein Kaiserschnitt. Jetzt muss etwas passiert sein. Sechzehn, siebzehn. Wie sollst du alleine ein Kind aufziehen mit deinen beiden linken Händen? Mit deinem ungesunden Körper? Mit deinem ungesunden Geist? Mit deiner waidwunden Seele? Da wäre es noch besser – nein, daran darf man gar nicht denken! Den Gang rauf und runter, rauf und runter. Links das Todesfenster. Rechts die verschlossene Tür. Deine Schuhe hallen durch das ganze Areal, als wären es Steppschuhe, warum hört dich niemand? Bist du der Gestorbene? Zwei Stunden, achtzehn, neunzehn, zwanzig: Keine Zigarette mehr da. Es reicht. Jetzt muss das Drama sich entscheiden. Du klopfst. Du wartest. Nichts. Du klopfst ein zweites Mal. Du brichst zusammen. Nein, du brichst doch nicht zusammen: Es ist dir nur so vorgekommen. Da öffnet eine Schwester die Tür. »Ja, der stolze Vater! Auf Sie haben wir jetzt ganz vergessen. Die Mutter ist im Aufwachzimmer, das Kind im Brutkasten in der Frühgeborenenstation.« Nie! Nie! Nie auf den Vater vergessen! Das war dein Schaltjahr.
    Die Fortschrittsgynäkologen meinten später übereinstimmend, der durch die Umstände des Todes deines Vaters verursachte  Stress  sei vermutlich die Hauptursache für den Fruchtblasensprung gewesen. Es war eine komplizierte, heikle, schwere Geburt, und wenn Siemens et alii nicht gewesen wären, wärst du vermutlich

Weitere Kostenlose Bücher