Absturz
ihr ist nichts anderes übrig geblieben, als dieses frostige Schweigen, das sie sich eingehandelt hat, zurückzugeben. (Auf Freundlichkeiten, woher auch immer, reagiere ich reflexartig freundlich, aber ich bin von Haus aus kein freundlicher Mensch. Frau Oberluggauers Grab und das Grab meiner Familie (wo auch ich tief unten, aber doch über meinem Vater enden und verwesen werde – die letzte unwesentliche Gnade der späten Geburt!) liegen – der Friedhofsverwaltung sei es geklagt (aber solche Klagen sind ja aussichtslos!) – nicht weiter voneinander entfernt als unsere Wohnungen, nur knapp zwanzig Meter nämlich, die Wohnungen in einer Straße, die Gräber in einer Reihe. Und das in einer Stadt mit beinahe hunderttausend Einwohnern! Die Welt ist ein Dorf, die Welt ist ein Hinterhof! Man kommt aus diesem Hinterhof nicht heraus. Und wenn man doch aus diesem Hinterhof herauskommt, kommt man immer wieder in diesen Hinterhof zurück. Die Falle schnappt immer wieder zu. So wichtig, unverzichtbar und bedeutend kann man gar nicht sein, dass man nicht doch wieder im Hinterhof endet! Zur Beerdigung meines Vaters vor zwei Jahren (auch ihn, der alt, aber sechzehn Jahre jünger war, hat sie noch überlebt! Unfassbar, wie ungerecht das Leben mit seinen Terminen sein kann!) ist Frau Oberluggauer zwar nicht gekommen (sie hat mir auch nicht gefehlt), aber sie hat sich gerade an ihrem eigenen Grab (und dem ihres Bezirksverwaltungsoberinspektors) unter den beiden mächtigen Tannen, in denen Käuze schreien, zu schaffen gemacht, als der Trauerzug mit dem Eichensarg meines Vaters in der Mitte auf dem letzten Weg zu seinem Grab zwanzig Meter vor der Endstation ihr Grab und sie passiert hat. Selbst längst eine Leiche zu Lebzeiten, wenn auch wie immer mit pechschwarz gefärbtem Haar und einem schockgelben Kostüm mit schockgelbem Hut, hat sich Frau Oberluggauer umgedreht und ein verdutztes Gesicht geschnitten – ja, wer kommt denn da so horizontal daher? –, dann hat sie ihr Unkraut Unkraut bleiben lassen, die Gelegenheit genutzt und sich für die letzten zwanzig Meter kurzerhand in den Zug eingegliedert.
Nachdem der Sarg des Vaters ins Grab gelassen worden war und ich ihm seine letzte Zigarette nachgeworfen habe, flankierten mein Bruder und ich unsere in Tränen aufgelöste schwarze Mutter, um die fälligen Kondolenzen entgegenzunehmen (was ich, obwohl ich keine Erfahrung in diesen Dingen hatte, ziemlich abgebrüht, um nicht zu sagen: locker hinter mich gebracht habe). Als Frau Oberluggauer an der Reihe war, reichte sie meiner Mutter die Hand und sagte ihr Beileid, meinen Bruder und mich aber würdigte sie keines Blickes, drehte sich um und ging. Zeitlebens war es mir unvorstellbar gewesen, dass es bei der Beerdigung meines Vaters für mich – wenn auch nur für ein paar Augenblicke – einen Anlass zu schmunzeln geben würde können. Aber mein Bruder und ich, wir haben uns hinter dem Rücken unserer schluchzenden Mutter angeschaut, wir haben dezent die Köpfe geschüttelt, und wir haben zu Boden blickend verstohlen geschmunzelt.
Ich habe mit der uralten Frau Oberluggauer nicht gesprochen, aber ich habe mich nicht schuldig gemacht, notwendige Hilfestellungen zu unterlassen. An einem Abend im vorletzten Winter hat einer der Nachbarn bei mir geklingelt und um eine solche Hilfe gebeten: Frau Oberluggauer sei im Hinterhof auf einer Eisscholle ausgerutscht und liege am Boden. Passiert sei ihr – jedenfalls auf den ersten Blick – nichts, aber sie komme von allein nicht mehr hoch. Tatsächlich ist Frau Oberluggauer nicht gelegen, sondern aufrechten Oberkörpers in der Finsternis mitten im Hinterhof auf der Eisscholle auf ihrem neunzigjährigen Hintern gesessen. Ich habe Frau Oberluggauer, die wahrscheinlich gar nicht wusste, wie ihr geschah, von hinten unter den neunzigjährigen Achseln gepackt – arische Achseln, die Achseln einer Denunziantin und Nazitante, entnazifizierte und gleich wieder im Staatsdienst integrierte Achseln, die Achseln einer verbitterten alten Frau, die ohne Ursache uns Hinterhofkinder niederkeifte und dem Heer der Hinterhoftauben von ihrem Balkon aus halbschuhgroße Fleischstücke zum Fraß vorwarf. Die Hinterhoftauben fraßen und fraßen, aber es war einfach zu viel für sie, und nach dem nächsten Platzregen schwammen die Fleischreste in den Pfützen. Ich habe sie also von hinten gepackt – (es war nach über neunzig Jahren ihrerseits und fast vierzig Jahren meinerseits das erste und letzte Mal in meinem
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