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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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nicht Vater deiner Tochter, die ihren Körper am Anfang noch nicht viel besser koordinieren konnte als dein Vater seinen nach dem letztlich letalen Gehirnschlag in der Intensivstation. Wenn die Fortschrittsmaschinen nicht wären, hätte der bosnische Steinmetz womöglich den Tag der Geburt und als Todestag den vorhergehenden Tag in den Grabstein eintragen müssen. Vom Tag der Geburt an bestätigten jedenfalls alle Verwandten und Bekannten die frappante Ähnlichkeit von Opapa und Enkelin in den Gesichtszügen, selbst in Mimik und Gestik. Gerade dass sie nicht die Worte  Wiedergeburt  und  Auferstehung  verwendet haben. Manche Esoteriker behaupten ja, die Seele verlasse ihren verstorbenen Körper am dritten Tag nach dem Tod, gehe dann auf Wanderschaft und mache sich vierzig Tage lang auf die Suche nach einem neuen Körper, der sich gerade anschickt, auf die Welt zu kommen. Fehlten also zwei auf fünfundvierzig. Das wäre wirklich Pech. Kein neuer Stuhl am Tisch: Der Stuhl war nur kurz frei geworden, dann wieder besetzt.
    Nach der Beerdigung die Entrümpelung. Jetzt (genau genommen vor vier Monaten) ist meine uralte Nachbarin, Frau Oberluggauer, doch noch gestorben: Jetzt mit zweiundneunzig Jahren, als in der ganzen Nachbarschaft niemand mehr ernstlich damit gerechnet hat und sich alle nach und nach damit abgefunden haben, dass Frau Oberluggauer unsterblich ist und – nach Heerscharen von Hinterhofhunden, Hinterhofautos und Hinterhofmenschen jeden Alters – auch uns alle, die wir etwas mehr oder weniger als ein halbes Jahrhundert jünger sind, eines Tages überleben wird, auch wenn sie niemand hier um diese Unsterblichkeit wirklich beneidet hat; ich, Jan Philipp Möller, jedenfalls nicht. Das war kein Lebensabend mehr, das war eine Lebensfrostnacht, das war kein Herbst des Lebens mehr, dass war ein arktischer Lebenswinter, das vorweggenommene Fegefeuer, wenn nicht die vorauseilende Hölle, jedenfalls ein Strafvollzug in Einzelhaft. Frau Oberluggauer war ein Fossil, zeitlebens ohne Kinder geblieben, ihr Mann – selbst so ein Hinterhofungeheuer und außerdem invalidenpensionierter Bezirksverwaltungsoberinspektor, wie ich seinem Grabstein entnommen habe – und ihre ganze Welt sind ihr vor Jahrzehnten weggestorben. Ein Vierteljahrhundert hat sie untätig und ohnmächtig in ihre eigene Nachwelt hineingeschnuppert und tagtäglich an Leib und Seele erfahren, dass nichts, wirklich nichts von ihr übrig bleiben, dass sie niemandem, wirklich niemandem fehlen wird, wenn sie fehlt, was jetzt – seit vier Monaten – der Fall ist. Noch verbitterter und einsamer als Frau Oberluggauer zuletzt in ihrer Wohnung im vierten Stock gewesen sein muss, kann man wohl gar nicht sein. Aber die schreckliche Einsamkeit, die Menschen in ihrem Alter und in ihrer Situation als letzte und größte Gemeinheit des Lebens befällt – sieht man einmal von der obligatorischen Todeskrankheit ab –, hat Frau Oberluggauer noch zusätzlich begünstigt, beschleunigt und heraufbeschworen. Ich habe sie im Umgang mit anderen Menschen (wozu auch ich gehöre) seit Jahrzehnten (ich war eben verleitet zu schreiben: seit Jahrhunderten) nie anders als kratzborstig, unverschämt, selbstgerecht, verstockt und widerlich erlebt. Sie schadete mit ihren dürftigen Mitteln buchstäblich, wem sie nur konnte, und die wenigen hilfsbereiten Menschen, die die alte Frau jemals in ihre Wohnung gelassen hat (ich gehöre nicht zu ihnen), hat sie anschließend bezichtigt, sie bestohlen zu haben, worauf in diesen letzten Jahren niemand mehr diese Wohnung betreten hat, was allerdings auch dazu geführt hat, dass die übelsten Gerüchte aufkamen. Als erwiesen gilt, dass sie bis zuletzt mit ihrem Hund ins Bett gegangen ist. (Einmal habe ich mitangehört, wie sie im Rahmen einer ihrer unzähligen Hinterhoffehden ihrem Widersacher mit ihrer Bratpfannenschrubbstimme ins Gesicht sagte: »Ihnen wünsche ich, dass Sie so alt werden wie ich!« Das war eine Verfluchung, nichts anderes.)
    Meine Frau Oberluggauer betreffende Feindseligkeit ist eine alte Geschichte und rührt noch aus meinen Kindestagen, damals, als sie auch schon eine alte Frau gewesen ist. Jedenfalls haben wir seit Jahrzehnten nicht mehr miteinander gesprochen und einander nicht einmal gegrüßt, obwohl wir uns im Hinterhof praktisch jeden Tag unvermeidlich gesehen haben. Eingestellt habe die Kommunikation ich (wie auch die meisten anderen Nachbarn es getan haben, nur vielleicht nicht so radikal und absolut wie ich), und

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