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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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aber zum Glück starb er, bevor der Junge auf die Welt kam. Dadurch fiel das Haus an seine blinde Schwester, an mich und den Jungen. Zu dritt lebten wir sehr gut zusammen. Dann starb die Blinde, und ich blieb mit dem Jungen allein, bis eines schnakenreichen Frühlingstages ein Samojede durch die Tür trat. Er hatte sein voriges Weib so lange geschlagen, bis sie wahnsinnig wurde, und nun war ich an der Reihe. Bald brachte ich meinen zweiten Sohn zur Welt. Eine Weile lebten wir gut, aber nur eine kleine Weile.«
    Sie stand auf, lief flink zum Schrank, holte eine halb volle Wodkaflasche heraus und goss sich einen Schluck in ihr Teeglas.
    »Er war ein großer Jäger, vertrank aber sein ganzes Geld. Ich lebte mit meinen Söhnen am Rand des Hungertodes. Einmal, an Ostern, ging er was erledigen und kam nicht wieder. Sein jüngerer Bruder brachte mir die Todesnachricht: Er hatte sich im Suff geprügelt und ein Messer in den Bauch bekommen. Der Bruder blieb und wohnte hier. War ein guter Mann. Ich brachte drei Mädchen zur Welt, aber die starben alle. Dann fiel der Bruder da drüben an der Hausecke in den Brunnen und ertrank. Ich ging in die Fabrik putzen, und allmählich kam das Leben in glücklichere Bahnen. Als altes Weib brachte ich noch einen Jungen zur Welt. Der ist gerade mit seinen Brüdern am Fluss.«
    Hinter dem Speiseschrank hörte man leise das Rascheln einer Maus.
    »Ich bin zufrieden, dass ich in meinem eigenen Haus wohnen darf, auch wenn ich mein Leben lang dieses russische Kaff gehasst habe.«
    Die Alte stand auf, nahm Zwieback aus dem Schrank und drapierte ihn schön auf einem mit Blumen verzierten Teller vor der jungen Frau.
    »Ich sehne mich nur nach der Tundra.«
    Als der Mann aufwachte, schnaubte er:
    »Die Alte redet Unsinn wie Puschkin persönlich.«
    Das Zimmer der jungen Frau war klein, dunkel und melancholisch. Es hatte sich darin der Gestank uralter Bettwäsche dauerhaft einquartiert. Auf der schimmelfleckigen Tapete hing ein kratziger alter Gobelin. Ein großer, heiß glühender Ofen machte sich im Raum breit, trotzdem waren die Ecken der Außenwand dick bereift, und am äußeren Rand des Fußbodens glänzte blankes Eis.
    Die junge Frau lag zwischen sauberen, gestärkten Laken auf der Strohmatratze, die glatte Kühle der Wäsche beruhigte sie. Hinter der Tapete nagte und raschelte eine Maus, die junge Frau schlief ein.
    Sie erwachte vom Seufzen einer Katze, die neben ihrem Kopfkissen aufgetaucht war und sie unverwandt anstarrte. Sie streichelte das glänzende Fell des greisen Tiers, lauschte auf das Knacken des Frosts in den Ecken, auf das Scheppern des Samowars und auf die dumpfen Schritte der alten Frau. Eine Weile sah sie dem reglos im Gegenlicht schwebenden Staub zu, dann sprang sie plötzlich erschrocken aus dem Bett und spähte durchs Fenster in den schmächtigen Morgen. Sie musste vierundzwanzig Stunden geschlafen haben.
    Sie nahm die Katze auf den Arm. Das Tier öffnete den Mund zum Miauen, brachte aber keinen Ton heraus. In dem Moment empfand die junge Frau enorme Sehnsucht.
    Im dritten Studienjahr hatte sie im Musikladen Melodija Mitka kennengelernt, einen zerbrechlichen Menschen mit schlechter Haltung und Brille, dem ein kleiner Ziegenbart am Kinn wuchs. Er hatte pechschwarze, kurze Haare und Augen, die blinzelten, als würde sie das Licht irgendwie ganz besonders anstrengen. Sie waren in eine Saftbar gegangen, hatten sich stundenlang unterhalten und sich verabredet. Mitka mochte ihre eisblauen Augen und das gedankenlose Lachen. Einige Wochen später lud er sie zu sich nach Hause ein. Von seinem Zimmer aus blickte man auf einen kleinen Park, und von dort aus bestaunte sie die mal in rauchigen Nebel, mal in milchigen Dunst gehüllte Stadt und ihren rosa Winterhimmel. Mitka sagte, er sei gerade siebzehn geworden. Er besaß ein breites, altes Eisenbett mit einer harten Federkernmatratze, einem gestreiften Leinenlaken und einem weißen Bettbezug, dessen beinerne Knöpfe klickten, wenn sie sich berührten. Sie war über Nacht geblieben. Danach hatte es weitere Nächte gegeben, weitere Tage, die sich glichen, erfüllte Tage voller Licht und Schatten.
    Die Alte hatte den Tisch mit einer Schüssel Buchweizengrütze und einer Terrine mit dampfendem, fettigem Borschtsch gedeckt und dem Mann ein Glas Sauerrahm und eine prächtige Wodkaflasche hingestellt. Die junge Frau trank Tee, die Alte Chai, der Mann wischte sich den Schweiß von der Stirn, kippte sich den Sauerrahm in den Mund, rülpste

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