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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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jetzt das Dorf stand, würden zuerst vereinzelt Erlen wachsen, dann etwas dichter Kiefern mit roten Stämmen und schließlich Mischwald. Hinter einem Schuppen heulte mit Unterbrechungen eine Motorsäge, hustete und ging aus. Über der Schuppentür hing ein Schild: »Technisches Depot der Kolchose«. Neben der Tür thronte ein Stoß Holzscheite, dahinter saßen einige Jungen. Sie trugen viel zu große Steppjacken oder Sakkos, die sie von ihren Vätern geerbt hatten, und Filzstiefel. Sie ließen eine Fuselflasche kreisen. Als sie leer war, steckte sie einer der Jungen in den Holzstoß.
    Der Mann und die junge Frau gingen zum Gemischtwarenladen zurück. Dort parkten nun zwei Traktoren. Der eine hatte ein Führerhaus aus ungehobelten Brettern, mit einem alten Hausfenster als Windschutzscheibe, der andere statt Rädern schlaffe Raupenketten; wo das Lenkrad gewesen war, steckte eine Fahrradfelge. Die junge Frau kaufte ofenfrische Kohlpiroggen und eine Flasche Kompott, der Mann eine Flasche Fusel. Sie setzten sich neben einer weißen, struppigen Katze auf die Ladentreppe. Fünf kleine, lebhafte Bienen tauchten von irgendwoher auf. In der grellen Kälte schwirrten sie um die Piroggen herum. Als die junge Frau sie verscheuchte, flogen sie beleidigt davon, nur eine versuchte, sich auf einem vereisten Rosenbusch niederzulassen, starb aber noch vor der Landung.
    Nun kam hinter dem Laden eine Kapelle hervor. Kinder Sibiriens in Pionieruniformen marschierten im Takt eines Liedes und einer kleinen Trommel die Dorfstraße entlang. Ihre schmächtigen Kinderkörper steckten in weiten Blusen, die sich im kalten Wind blähten. Die roten Pioniertücher setzten sich hübsch von den braunen Oberteilen ab, und die bunten Bommelmützen beschatteten offene, unschuldige Gesichter.
    Nachdem die Pioniere hinter dem Schulhaus verschwunden waren, gingen der Mann und die junge Frau zum Auto und setzten ohne Eile ihre Reise fort.
    »Früher dachten die Menschen, Gott ist die Natur, aber heute hört man viele sagen, Gott ist die Stadt. Ich bin der zweiten Meinung. Jemand hat gesagt, die Städte bestehen aus Krebszellen. Scheißdreck! Schon der Menschenverstand sagt einem doch, dass ein Dutzend Würmer nicht ewig vom selben Apfel fressen können. Hier gibt es unendlich viel Natur. Sie ist umsonst und hört nie auf. Die menschlichen Ressourcen sind hier unerschöpflich, uns gehen die Massen nicht aus. In den Fünfzigerjahren pflegte im Dorf Suchoblinowo ein Brigadier der Maschinen-Traktoren-Station zu sagen: Die Freiheit besteht aus weiten Ebenen, über die man sein Leben lang gehen und dabei die Luft des offenen Geländes atmen kann. Man saugt den Wind ein, so tief wie möglich, und spürt über sich das unendliche Universum. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
    Zwischen Hügeln schlängelte sich der Ob, gefangen von gewaltigen Eismassen und bestrahlt von der Sonne. Lange, spröde, bereifte Gräser lugten an seinen Ufern aus dem Schnee und grüßten die Reisenden. Sie hielten oft an, aus reiner Neugierde oder weil es verbrannt aus dem Motor roch.
    Eine Weile spazierten sie über die vereisten Sanddünen am gewaltigen Fluss entlang. Erfrorenes, trockenes Schilf raschelte rau. Der schluchzende Nordwind brachte mehlartigen, frischen Schnee mit. Der Mann blieb stehen, um auf die Stille zu lauschen.
    »Sollten auf einmal gelbäugige Wölfe auftauchen, müssen wir ihnen zuhören und sagen, es geht uns gut, Brüder.«
    Eine kleine Stelle am Ufer war eisfrei, dort schwammen Eisbrocken in den Strudeln. Etwas weiter weg hielten ein Boot und eine Rindenhütte, die der Erde in den Schoß gesunken war, unter dem Schnee ihren Winterschlaf. Als Fortsetzung einer Reihe wintertoter Ebereschen kauerten zwei Auerhähne am Boden, am Himmel flogen ein paar Krähen ihre Bögen und kündigten Schneefall an. Nördlich der Vögel tat sich ein merkwürdiges schwärzliches Gelände auf. Dort wollte der Mann hin, mitten auf die gewellten, von den Frühfrühjahrsnebeln zerfressenen Schneefelder. Der Wind pfiff über die Fläche, auf der im Sommer saftiges Gras wuchs. Wie eine glühende Kohle loderte die Sonne. Der Schnee blendete und brannte in den Augen. Unter der eisigen, messerscharfen Oberfläche war der Schnee so porig, trocken und weich, dass der Mann und die junge Frau bei jedem Schritt tief einsanken. Zuerst bis zu den Knien, dann bis zu den Oberschenkeln, dann bis zu den Lenden und schließlich bis zum Nabel. Aber der Schnee wurde wieder weniger, je näher sie dem

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