Abteil Nr. 6
den Motor lange mit zärtlichen Worten und drehte den Schlüssel. Wieder schrie der Motor bemitleidenswert, ging diesmal aber nicht aus. Die junge Frau ließ ihn eine Weile laufen und lobte ihn ausführlich, bevor sie mehr Gas gab und das Fahrzeug ins Rollen brachte.
Sie fuhr auf sowjetische Art mit Standlicht durch die vom Morgenschein zerschnittene Stadt Tomsk. An einer kleinen Brücke hing ein leerer roter Lada Kombi. Die Fahrertür klaffte obszön offen, die Rücklichter funkelten den Himmel an. Die letzten Sterne der Nacht irrten um die aufgehende Sonne herum, und die im Wind rappelnden Lampen gingen eine nach der anderen aus. Die junge Frau betrachtete die rosa Wohnblocks, ihre schmalen, schiefen Belüftungsfenster, an denen der Südwind rüttelte.
Das Auto hüpfte kreuz und quer durch die schmalen Straßen von Tomsk. An den Kreuzungen hielt die junge Frau an und schaute in die Straßenspiegel, in denen die friedliche Stadtlandschaft gebrochen und verzerrt erschien. Der Mann döste, nickte ein, wachte auf, trank Wodka und wurde schließlich munter. Die junge Frau suchte ein Hotel, fand aber keines. Schließlich stoppte sie an einer Bushaltestelle, wo mürrische Sowjetbürger schweigend in einer Schlange standen. Der Mann stieg aus und ging schwankend zu ihnen.
»Zuerst fährst du links, mein kleines Fräulein, dann kultiviert geradeaus und schließlich in einem Bogen hinter ein fensterloses, unterm Staub begrabenes Industriekombinat«, sagte er, als er wieder im Auto saß.
Die Industriegebäude, Fertigungshallen und Magazine des Kombinats gingen halb im Schnee unter, nur die werkseigenen verzweigten Gleise glänzten. Hinter dem Kombinat stand ein ausgelaugtes, in die Erde eingesacktes kleines Holzhaus. Das Hoflicht hing an einem Kabel herab und war kaputt.
»Da ist es, unser Hotel. Fahr langsam. Die Alte, die da wohnt, quartiert auch Landstreicher ein.«
Nachlässig untergehakt, spazierten sie zur Eingangstreppe. Die Trübheit des kalten Morgens hüllte die Hütte ein. An der Tür hingen fünf gebrochene Haken, eine Klinke gab es nicht. Mit den Fingerspitzen fuhr die junge Frau in den Spalt und zog die Tür auf. Im dunklen Flur wurden sie von einem surrenden Stromzähler und einer Balalaika von der Größe eines Kleiderschranks empfangen.
Das spezielle Hotel wurde von einer vertrockneten Oma betrieben, die drei Strickjacken und zwei dicke, lange, grellbunte Röcke trug. Aus der Warze auf ihrer Wange spross eine Ähre. Die Alte wohnte mit ihren drei erwachsenen Söhnen, die allesamt Arbeiter waren, in der Küche, die beiden übrigen Räume vermietete sie an Reisende, wie sie sagte.
»Ich müsste ein bisschen schlafen, mein Mütterchen«, sagte der Mann. Seine Stimme hatte inzwischen jeglichen Mumm eingebüßt.
»Was denn! Schlafen kann man noch im Grab. Zuerst einen Tee und dann vielleicht ausruhen.«
Auf dem klebrigen Holzboden in der Küche lag ein Stück abgetretener Kunststoffbelag. Die Bretter quietschten und knarrten. Über die ungeraden Wände liefen schwarze Stromkabel wie Blutegel. Das Farbfoto von Stalin in der Ikonenecke hing schief, darunter hatte man eine alte Ikone des heiligen Nikolaus aufgehängt. In der türlosen Speisekammer bogen sich die Regalbretter unter Trockennahrung und Einweckgläsern. Der Fensterzwischenraum war mit Lebensmitteln vollgestopft, die kühl aufbewahrt werden mussten. In der dunkelsten Ecke der Küche zischelte es in einem großen Zuber aus Emaille. Darin garte eine Sauerkrautmischung mit Preiselbeeren. Vor dem Fenster schlummerte offenbar ein Pflanzbeet, denn dort hatte man Asche auf den schützenden Schneehaufen geworfen.
Die Alte bot ihnen Kohlsuppe, Buchweizengrütze, Tee, Marmelade und Kohlpiroggen an. Sie besaß ein schönes, zierliches Teeservice. Die großformatigen Löffel polierte sie, indem sie auf jeden spuckte und ihn dann mit der geblümten Schürze blank rieb. Die junge Frau versank in Gedanken, der Mann wischte sich den aufkommenden Katerschweiß von der Stirn. Dann knallte seine Stirn auf die Tischplatte, und er fing an zu schnarchen. Die Alte servierte mit starkem Kümmel gewürzten Kohlauflauf und goss der jungen Frau eine zweite Tasse von dem schalen Tee, der seinen Charakter verloren hatte, ein.
»Als ich ein kleines Mädchen war, verkaufte mich mein Vater für eine Flasche Wodka an einen runzligen russischen Kerl. Der schleifte mich in dieses Haus hier, wo er wohnte, und was hab ich geweint. Sobald er dazu fähig war, schwängerte er mich,
Weitere Kostenlose Bücher