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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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jungen Frau zum Pochen. Sie zählte innerlich: eins, drei, neun, zwölf … Sie zählte so lange, bis sie sich beruhigte. Die Lokomotive heulte zwei Mal, dann ruckte der Zug an. Aus den Plastiklautsprechern brach lautstark Schostakowitschs siebte Sinfonie, und zurück bleibt Nowosibirsk, der Baustellenlärm der Wohnsiedlung, der Gestank von verrottendem Metall, der durch das offene Fenster dringt. Zurück bleibt der blasse Duft weißer Nelken, das robuste Aroma des Knoblauchs und der durch Zwangsarbeit erzeugte Schweißgeruch. Zurück bleibt Nowosibirsk mit Installateuren und Bergleuten, die Industriestadt vergangener Träume, bewacht von rußigen, modernen, vom Wetter zerhäckselten Vorstädten, von Tausenden elenden Plattenbaukadavern. Zurück bleiben die Lichter von blinden, bei vierzig Grad minus schwitzenden Fabriken und die jammernden Fabriktore, die Zentralkaufhäuser, die Aase gefolterter Katzen an den Hotelecken, Filzpantoffeln und braune Wollhosen, die Läden der Konsumgenossenschaften, das müde Land, Nowosibirsk. Und da geht das Industriegebiet in Plattenbausiedlungen über, zerfressen von der Luftverschmutzung. Licht, helles Licht, und die Siedlung verwandelt sich, Licht und Halbdunkel, und ein Güterzug braust aus der Gegenrichtung heran, lang wie die Nacht dessen, der nicht schlafen kann, und Licht, das helle Licht des sibirischen Himmels, und Siedlungen, Vorstädte, Plattenbauten, es hört gar nicht auf. Das ist noch Nowosibirsk: ein Lastwagen auf einem schlecht befestigten Weg, Pferd und Heuwagen, die Taiga Sibiriens, über der roter Dunst liegt. Wild huscht der Wald vorüber, ein einsames, neunzehnstöckiges Haus inmitten zerfleischter Felder unter Schneewehen. Lawinenartiger Wald, das ist nicht mehr Nowosibirsk: Hügel, Tal, Gebüsch. Der Zug rast der unbekannten Tundra entgegen, und Nowosibirsk fällt in der Ferne zu einem Steinhaufen zusammen. Der Zug taucht in die Natur ein, stampft durch verschneites, menschenleeres Land.

Das Morgenlicht weckte die junge Frau. Der Mann reichte ihr ein Glas Tee, steckte sich selbst ein großes Stück Zucker in den Mund, rührte mit dem papierleichten Löffel im Tee und pustete lange, bevor er einen Schluck trank. Die junge Frau schaute eine Weile auf die Landschaft vor dem Fenster. Der Himmel war zu blau, der Schnee zu hell. Im Schutz einer einsamen Eberesche sah man ein blaues Holzhäuschen. Davor stand ein alter Mann mit einer Eisenstange in der Hand.
    »Ich gehöre dem Lager der sozialistischen Welt an, du nicht. Unsereiner ist in allen Lagern gewesen: Pionierlager, Militärlager, Ferienlager und Arbeitslager. Schon als ich noch ein kleiner Junge war, haben sie mir den Zwangsarbeiterspaten in die Hand gedrückt, weil ich ein paar Betonmischer an mich gebracht und aus der Fabrik getragen hatte. Ich wusste, dass ich dafür ein Eisen an den Hals bekomme, aber trotzdem … Am schlimmsten war die Zeit, bevor sie mich erwischten, das Warten auf das Unglück. Das ist, wie wenn man durchs Räderwerk des Satans gedreht wird. Wenn das Schlimmste dann passiert ist, denkt man nur noch, das gehört halt zum Leben. Wenn man nur nicht vor Hunger oder an einem Ödem stirbt. In meiner Erinnerung liegt über allem der dumpfe Geruch von verdorbenem Fisch.«
    Von der Kälte getrübt, färbte der Morgenschein die Eisdecke eines kleinen, wie eine Schlange sich windenden Bachs goldgelb. Rings ums Ufergestrüpp waberte dicker Nebel. Aus dem Weidicht reckten sich dünne vereiste Äste dem violett flimmernden Himmel entgegen. Ein wildes Ren mit weißen Flanken kam aus dem Nebel gerannt. Sein kleiner Schwanz zitterte.
    »Mein Sohn ist von der Seele her ein Abtrünniger durch und durch. Der Held eines Jungen müsste Kosmonaut Alexei Leonow sein oder General Karbyschew, den die Nazis bei lebendigem Leib einfroren. Aber nein. Er träumt von Jasow und Konsorten und plant, nach Ost-Deutschland zu gehen, sobald er als Laufbursche eines Händlers genug Dollars zusammengekratzt hat, dass er sich einen Auslandspass beschaffen kann.«
    Der Mann schien in sich einzusinken. Tiefe Düsternis hüllte den Waggon ein.
    »Ich würde nie auf die andere Seite gehen, auch nicht für ’nen Tausender. Das wäre ja so, wie wenn ein Vogel freiwillig von einem Käfig in den anderen springt. Ich liebe dieses Land. Amerika ist ein von Gott verlassener Misthaufen.«
    Nun wippte die Sonne auf der Höhe einer leicht bewaldeten Landschaft, und die Niedergeschlagenheit im Abteil verflog.
    »Daheim in Moskau lese

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