Acacia 01 - Macht und Verrat
den Neuankömmlingen abwenden. Das Antok hatte sie nicht angerührt. Es hatte ihnen kein Haar gekrümmt! Es hatte wenige Zoll vor ihren nackten Oberkörpern gestanden, vor Waffen, die ihm unmöglich etwas anhaben konnten, und … und... was? Ein Gedanke drängte gegen sein Bewusstsein. Es war beinahe schmerzhaft zu wissen, dass er da war, zu fühlen, wie er versuchte durchzubrechen, etwas so Wichtiges. Es ging um die Neuankömmlinge... Und um die Männer, die noch immer bei den Käfigen verharrten... Es ging darum, weshalb sie nicht angegriffen wurden.
Mit einem Ruck richtete er das Fernrohr wieder auf seine Armee. Mehr als dieser Anblick war nicht nötig. Jetzt war ihm alles klar. Er dachte nur einen Augenblick lang darüber nach. Länger brauchte er nicht, um sich seiner Sache so sicher zu sein, als hätte er die Tiere eigenhändig abgerichtet. Er flüsterte Kelis seine Erkenntnis zu, dann hob er die Stimme, um sie auch den anderen zuzuschreien.
62
Mena hatte das Gefühl, schon stundenlang hinter demselben Antok herzujagen. Eigentlich hätte sie auf Schritt und Tritt von Leibwächtern begleitet werden sollen, doch sie war so schnell losgestürzt, dass sie die gleich zu Anfang abgeschüttelt hatte. Sie war zwischen den Toten hindurchgerannt, war in den Blutlachen ausgerutscht und hatte sich bisweilen in Eingeweiden verfangen. Sie war über Leichen gesprungen, die Schreie und das Flehen der Verletzten in den Ohren. Schweißgebadet, mit brennenden Beinen und vor Anstrengung wogender Brust, weigerte sie sich, stehen zu bleiben. Sie bemühte sich, nichts als die Kreatur zu hören und zu sehen, die sie jagte. Sonst, das wusste sie, wäre sie von Grauen überwältigt worden.
Doch ganz gleich, welchen Weg sie nahm, es gelang ihr nicht, dem Antok nahe zu kommen. Sie wusste auch nicht, was sie tun sollte, wenn sie es schaffte, das Tier zu stellen, nur dass es dazugehören würde, ihre Wut durch die stählerne Schneide ihres Schwertes zu leiten. Sie empfand keinerlei Angst vor dem Antok. Ihr Hass auf die Bestie war zu allumfassend. Maeben trieb sie von innen her voran, versuchte, hervorzubrechen und die Bestie mit wütenden Klauen in Stücke zu reißen, verfluchte Menas schwachen Körper: kurzbeinig, flügellos und so zierlich. Das stachelte die Wut der Prinzessin noch weiter an.
Sie hielt nur deshalb lange genug inne, um den Befehl ihres Bruders zu vernehmen, weil irgendjemand sie an der Schulter packte. Der Zangengriff fesselte ihre Schulter an genau diese Stelle der Welt, und dem Rest ihres Körpers blieb nichts anderes übrig, als ruckartig stehen zu bleiben. Sie fuhr herum, bereit, den Betreffenden heftig anzuherrschen, wer immer es sein mochte. Das Gesicht, das sie erblickte, war eine solche Maske zerfurchter, erschöpfter Unerschütterlichkeit – voll soldatischer Entschlossenheit, gleichzeitig flehend und unwiderlegbar -, dass ihr die Worte im Halse stecken blieben.
»Prinzessin«, sagte Leeka Alain, »hört auf, in der Gegend herumzurennen.« Hinter ihr sammelten sich mehrere keuchende, schweißnasse Leibwächter. Zu Menas Überraschung nutzten sie die Gelegenheit, ihre Panzerwesten loszuschnallen, die Helme abzunehmen und die orangefarbenen Oberarmbänder loszuschneiden. »Sagt mir«, fuhr der General fort, »welches Volk zieht fast nackt und nur mit Holzschwertern bewaffnet in den Krieg? Ein braunhäutiges, schwarzhaariges Volk?«
Sie hatte die Antwort ausgesprochen, noch ehe sie sich über den Sinn der Frage klar geworden war. »Mein Volk – die Vumu-Bewohner, meine ich.«
»Ja, genau«, brummte Leeka. »Eure Leute sind Euch gefolgt, Prinzessin. Und das war unser Glück, denn sie haben Aliver gezeigt, wie er es machen muss.«
»Wie er was machen muss?«, fragte Mena zerstreut. Sie hielt Ausschau nach dem Antok, dessen buckliger Rücken wie eine Haifischflosse durch das Meer der Soldaten pflügte.
»Wie man diese blutrünstigen Riesenschweine besänftigen und sie dann vielleicht töten kann. Zunächst einmal müsst Ihr Euch ausziehen.«
Sie sah Leeka wieder an. »Was?«
»Bis auf die Haut.«
»Ist das Euer Ernst?«
Der alte Soldat runzelte die Stirn. »Es ist nicht so, dass ich den Anblick nicht zu schätzen wüsste, Prinzessin, aber der Befehl kommt von Eurem Bruder. Zieht Euch aus und folgt mir. Es ist eine verrückte Idee, aber vielleicht die einzige Möglichkeit, den heutigen Tag zu überleben. Ihr werdet mit Eurer Nacktheit nicht allein sein.«
Er setzte sich in Trab und riss sich im Laufen
Weitere Kostenlose Bücher