Acacia 01 - Macht und Verrat
achtete dabei darauf, dass ein befehlender Ton in ihrer Stimme mitschwang. Hätte sie ihn nicht so unverwandt angesehen, hätte er sich vielleicht geweigert, sich gesträubt oder das Thema gewechselt. Er setzte zu einer Bemerkung an, doch ehe er etwas sagen konnte, zog sie das Buch aus seinen Händen und trat ein paar Schritte von ihm fort.
Es war viel leichter, als es aussah. Auf die leiseste Bewegung ihrer Finger hin öffnete es sich. Kaum hatte sie einen Blick hineingeworfen, wusste sie, dass nichts in ihrem Leben je wieder so sein würde wie vorher. Die Seite war mit verschnörkelten, geschwungenen, tanzenden Buchstaben bedeckt. Sie bewegten sich vor ihren Augen, wuchsen und wandelten sich und wurden zu Wort um Wort einer fremden, wundervollen Sprache. Die Worte, die sie las, trafen sie wie Töne, die in ihrer Seele widerhallten. Sie wusste nicht, was die Worte bedeuteten, doch als ihr Blick darauf fiel, lösten sie sich von der Seite und erfüllten sie mit Gesang. Die Worte hießen sie willkommen, sangen ihr Loblied, tanzten in der Luft um sie herum wie exotische Vögel. Sie versicherten ihr, sie hätten auf sie gewartet. Auf sie. Jetzt würde alles gut werden. Sie, sie, sie könne machen, dass alles gut werde. Die Worte schmiegten sich um ihr innerstes Wesen wie eine hungrige, schnurrende Katze. Corinn hätte nicht zu erklären vermocht, auf welche Weise sie die Empfindungen, Erklärungen, Versprechungen wahrnahm. Doch die Botschaft und die sublime Strahlkraft der Stimmen waren nicht zu leugnen. Dieses Buch war ohne jeden Zweifel das Geschenk, auf das sie ihr Leben lang gewartet hatte.
Als sie es schloss, das Zimmer zur Normalität zurückkehrte und sie sich wieder auf Thaddeus konzentrieren konnte, verstand sie bereits mehr als zuvor. Schon jetzt sah sie klar und deutlich, was getan werden musste. »Das ist wundervoll«, sagte sie aufrichtig. »Sag mir die Wahrheit – weiß sonst noch jemand von dem Buch? Dass es sich in deinem Besitz befindet und dass es hier ist, bei mir?«
»Nein, da brauchst du keine Angst zu haben. Nur wir beide wissen davon. Aber du machst ein Gesicht... Hast du etwas darin gesehen?«
Sie lächelte freundlich, antwortete ihm jedoch nicht. »Du hast Großes geleistet. Mein Vater hatte recht, dich zu lieben.«
Was immer er an Zweifeln gehegt haben mochte, diese Bemerkung fegte sie davon. Thaddeus’ alte Augen füllten sich augenblicklich mit Tränen. »Ich danke dir«, sagte er. »Ich danke dir, dass du das sagst. Dann kannst du mir also verzeihen?« Corinn erwiderte, sie wisse nicht, was er meine. Was sollte sie ihm verzeihen? Sie könne ihm nur danken. Daraufhin wischte er sich eine Träne von der Wange. Ein Wortschwall kam aus seinem Mund; er erklärte, was er getan habe und warum, wie sehr er es bereue und gebetet und gearbeitet habe, um es wiedergutzumachen.
Corinn hörte die meiste Zeit über nicht zu, doch sie sah ihn an und nickte mit großen Augen. Noch ehe er geendet hatte, wurde er von Erschöpfung übermannt. Seine Gesten wurden fahrig. Seine Worte klangen undeutlich. Wenn er blinzelte, öffneten sich seine Augen nur widerstrebend. Corinn saß lediglich lange genug still da, um zu entscheiden, was sie tun würde, dann unterbrach sie ihn.
»Genug, Thaddeus«, sagte sie. »Ich sehe an dir keinen Makel. Verstehst du mich?« Sie beugte sich vor und berührte ihn sanft am Kinn. »Dich trifft keine Schuld. Wir brauchen nicht mehr darüber zu reden. Ich hole dir etwas zu essen und zu trinken. Wenn ich wieder zurück bin, überlegen wir, was wir tun werden und wie wir es tun werden.«
Da sie spürte, dass er Einwände erheben wollte, drückte sie ihm das Buch an die Brust. Das schien ihn zu beruhigen. Nachdem sie die Tür entriegelt und einem Dienstmädchen aufgetragen hatte, Tee und eine leichte Mahlzeit zu bringen, stand Corinn zitternd da. Die Erinnerung an das Lied war bereits bittersüß. Sie liebte es. Es hatte das Leben als etwas Gesegnetes erscheinen lassen. Mit dem Lied wäre alles möglich. Sie sehnte sich bereits schmerzlich danach, das Buch erneut aufzuschlagen. Sie wusste, dass es nicht leicht sein würde, die Sprache zu erlernen, die es sprach. Es würde Monate oder gar Jahre eingehenden Studiums erfordern. Das hatte das Buch ihr irgendwie mitgeteilt. Es hatte ihr so viel zu geben, doch nur, wenn sie für eine Gelegenheit sorgte, es in aller Ruhe und vielleicht im Geheimen zu studieren. Warum hatte ihr Vater – und die Generationen vor ihm – das Buch nicht
Weitere Kostenlose Bücher