Acacia 01 - Macht und Verrat
näherte sich Maeander über die zernarbte, trostlose Wüstenei, die das Massaker vom Vortag hinterlassen hatte, dem acacischen Lager. Er trug eine Fahne, die seine Verhandlungsbereitschaft zeigte, und eine Miene gefasster, lächelnder Demut.
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Der Papierschwan wartete dicht bei der Tür. Jemand musste ihn darunter hindurchgeschoben haben. Allerdings war nicht ganz klar, wie das bewerkstelligt worden war, denn der Schwan stand mehrere Fingerbreit vom Türspalt entfernt aufrecht da und war eigentlich zu groß, als dass er hindurchgepasst haben konnte. Außerdem lag eine Nachricht dabei. Ein Papierstreifen, so dünn, dass Corinn Mühe hatte, ihn aufzuheben. Sie fasste ihn behutsam mit den Fingernägeln. Nehmt dies Geschenk an , las sie, für den Fall, dass Ihr es brauchen solltet.
Eine Unterschrift fehlte, doch Corinn wusste, von wem die Nachricht war. Sie hatte keine Ahnung, wie Sire Dagons Leute an den Wachposten vorbeigekommen waren. Bei dem Gedanken, sie könnten unbemerkt in ihr Schlafzimmer eingedrungen sein, bekam sie eine Gänsehaut. Sie hob den Schwan an die Nase und roch vorsichtig daran. Er roch nach gar nichts. Als sie das Papier zwischen den Fingern drückte, spürte sie die grobe Form von Kristallen, die darin verborgen waren. Sie wusste, dass die Körnchen mittels eines Verfahrens, das allein der Gilde bekannt war, aus den Wurzeln einer Wildblume destilliert worden waren. Daraus stellten sie ein geruch- und geschmackloses tödliches Gift her, das nicht nachzuweisen war. Sie wollte einen zweiten Blick auf die Nachricht werfen, doch das Papier war zerfallen. Lediglich ein paar schwache Rückstände waren an ihren Fingern und am Boden zurückgeblieben. Der Luftzug, der durch den Türspalt kam, wehte sie bereits davon.
Sie befand sich in ihrem alten Zimmer, in dem sie manchmal schlief, wenn Hanish unterwegs war. Hier war sie ungestört, und in letzter Zeit suchte sie mehr und mehr die Einsamkeit, da sie ihre Gedanken ordnen musste. Heute war sie mit dem Gefühl erwacht, dass sich ihr Leben in den nächsten Tagen von Grund auf ändern würde. Der Schwan und die Nachricht bestärkten sie darin. Dies war eine kleine, stumme, aber machtvolle Bestätigung ihrer Überzeugung, dass die in der Welt wirkenden Kräfte mit ihr im Bunde standen. Vorsichtig, um ihn nicht zu sehr zu zerknittern, drückte sie die Flügel des Schwans flach und schob ihn unter den Gürtel.
Dann ging sie zum Ankleidebereich zurück, wo sie gestanden hatte, als sie den Schwan bemerkt hatte. Sie setzte sich auf den Schemel vor dem Schminktisch, dessen zahlreiche Spiegel es ihr erlaubten, sich aus verschiedenen Winkeln zu betrachten. Sie wollte die kommenden Ereignisse planen, wurde jedoch von den Spiegeln abgelenkt. Wie häufig in letzter Zeit fühlte sie sich unwohl. Jedes Spiegelbild gab einen anderen Charakterzug wieder. Je nach Blickwinkel sah sie traurig oder hinreißend aus, zart oder erregt, selbstbewusst oder... böse. Ja, im Halbprofil, von links betrachtet, nahm sie im Schnitt der Augen und des Mundes und um das Kinn herum, das sie wie eine Waffe warnend vorgeschoben hatte, eine gewisse Grausamkeit wahr, die ihr bislang noch nicht aufgefallen war. Es gefiel ihr überhaupt nicht, was sie da sah. Meistens jedenfalls. Manchmal missfiel ihr stattdessen das, was sie aus den anderen Blickwinkeln zu sehen bekam. Welches dieser Gesichter sollte sie Hanish bei seiner Rückkehr präsentieren?
Hanish wurde für den nächsten Tag erwartet. Er würde an der Spitze der kleinen Flotte segeln, die seine sagenumwobenen Ahnen zur Insel brachte. Tags zuvor hatte sie eine Nachricht von ihm erhalten, worin er ihr begeistert seine Pläne schilderte, seine Ahnen so rasch wie möglich in die kurz zuvor fertiggestellte Kammer zu bringen. Er sprach von der Freude, die ihn bei der Ankunft der mit Sarkophagen beladenen Schiffe erfüllt habe. Was für ein wundervoller Anblick, hatte er geschrieben. Als würde sie das Gleiche empfinden wie er! Er erinnerte sie an ihr Versprechen, den Ahnen zu ewigem Frieden zu verhelfen. Wenn sie dies täte, würde der Riss, der die Bekannte Welt jahrhundertelang verunstaltet habe, endlich gekittet werden. Das Mein und Acacia würden endlich Gelegenheit bekommen, ihre uralten Feindschaften beizulegen. Das Land, so versprach er ihr, werde endlich genesen. Genau darum sei es bei dem Krieg gegangen. Es sei eine lange Schlacht gewesen, eine Reise epischen Ausmaßes, doch das Ziel sei nahe. Er schrieb: Du, Corinn, wirst dazu
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