Acacia 01 - Macht und Verrat
beitragen, dies alles Wirklichkeit werden zu lassen. Mein Volk und das deine werden dich dafür verehren. Und ich dich auch.
»Er hat überhaupt keine Ahnung, was in mir vorgeht«, sagte Corinn in der Stille des Raums. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hätte sie die Wahrheit dieser Behauptung geschmerzt. Jetzt jedoch hing alles, was sie geplant hatte, davon ab. Hanish glaubte, er könnte sie zur größten Närrin der Welt machen; sie hingegen war fest entschlossen, das niemals zuzulassen. »Er hat überhaupt keine Ahnung, was in mir vorgeht.«
»Nein«, sagte eine sanfte Stimme, »das weiß niemand. Niemand hat es je gewusst.«
Corinn sprang auf, fuhr herum und suchte nach dem Sprecher. Zunächst konnte sie niemanden entdecken. Es war niemand da, nur die wohlvertrauten Möbelstücke, die von den idyllischen Deckengemälden und den bunten Wandbehängen bewacht wurden. Ein Mann teilte den Spalt zwischen zwei Wandteppichen und trat hervor. Er war nur wenige Schritte entfernt. Sein Auftauchen, seine plötzliche Gegenwart, erschreckte sie so sehr, dass ihr der Atem stockte.
»Hab keine Angst«, sagte der Mann. »Bitte, Prinzessin, schrei nicht. Ich will dir helfen. Ich diene deinem Bruder, und ich diene dir.«
Schon nach wenigen Worten hatte sie ihn erkannt. Thaddeus, der Kanzler. Der engste Freund ihres Vaters. Der Mann, der ihn verraten hatte. Beim Schöpfer, wie alt er geworden war! Das Gesicht war faltenzerfurcht, die Wangen eingefallen, seine Haltung gebeugt. Er sah müde aus, hatte dunkle Ringe unter den Augen, war unsicher auf den Beinen und drückte ein Buch an die Brust. Trotz des Schrecks stellte sie die erste Frage, die ihr in den Sinn kam. »Wie bist du hier hereingekommen?«
Thaddeus fragte sie, ob er sich setzen dürfe. Er sprach leise und mit tonloser, monotoner Stimme. »Dann werde ich dir bereitwillig alles erzählen, Prinzessin Co -«
»Du bist in meinem Zimmer?« Corinn konnte es immer weniger glauben, als ihr das Unmögliche der Situation aufging. »Wie kannst du in meinem Zimmer sein?«
»Bitte, dürfte ich mich setzen? Wenn ich es nicht tue, könnte es sein, dass ich zusammenbreche. Und bitte... könntest du dafür sorgen, dass wir nicht gestört werden? Niemand darf mich sehen. Ich erkläre dir, warum.«
Corinn starrte ihn an. Sie wusste, dass sie schnell überlegen musste. Solche Heimsuchungen waren stets bedeutsam. Sie musste standhaft bleiben, denn was immer diesen Mann dazu gebracht hatte, aus der Vergangenheit aufzutauchen und in ihrem Zimmer zu erscheinen, sie durfte es nicht ignorieren oder vergeuden. Und er machte gewiss nicht den Eindruck, als stelle er eine Bedrohung für sie dar. Ganz gleich, wie er hereingekommen war und was ihn hergeführt haben mochte, sie würde sich damit befassen; sie sollte ihn anhören, und sie sollte es ungestört tun. »Warte hier«, flüsterte sie.
Sie trat auf den Gang und teilte den Dienern mit, dass sie auf keinen Fall gestört werden wolle. Dann ließ sie Wachen vor dem Eingang zu ihren Gemächern Aufstellung nehmen und führte Thaddeus zu dem Alkoven gleich neben dem Balkon. Dort bat sie ihn, auf einem hochlehnigen Stuhl Platz zu nehmen, und schritt vor ihm auf und ab. Er erzählte ihr alles. Er erklärte ihr, wie er in den Palast gekommen und durch die Geheimgänge in den Wänden geschlichen sei. Er habe Stunden gebraucht, um in ihr Zimmer zu gelangen, habe aber schließlich einen niedrigen Tunnel entdeckt, dessen Ausgang sich in der Ecke hinter ihrem Bett befinde. Der Tunnel sei immer schon dort gewesen, verborgen durch einen simplen architektonischen Trick. Doch er sollte lieber am Anfang beginnen …
Aliver habe ihn geschickt, sagte er, und dann setzte er zu einer atemlosen, ernsthaften Schilderung des Mannes an, zu dem ihr Bruder herangereift war. Er sei dazu bestimmt, Leodans Erwartungen zu erfüllen, sie sogar zu übertreffen! Er habe eine große Vision. Er verstehe es, die Menschen zu begeistern. Er habe den leidenschaftlichen Wunsch, etwas zu bewirken. Thaddeus sprach auch von Mena und Dariel, von der Priesterin mit dem Schwert und dem tollkühnen Seeräuber. Seite an Seite kämpften sie in einer Schlacht, die sie nicht verlieren könnten. Aliver habe in den Menschen die Überzeugung geweckt, ihr Schicksal läge in ihren eigenen Händen. Wenn er siege, werde er nicht über sie herrschen, sondern für sie. Mit ihrem Einverständnis und in ihrem Interesse. Er werde alle Übel der Bekannten Welt hinwegfegen und neue Wege zum Wohlstand
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