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Acacia 01 - Macht und Verrat

Acacia 01 - Macht und Verrat

Titel: Acacia 01 - Macht und Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Anthony Durham
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sein.
    Er setzte sich, ohne die vorwurfsvollen Blicke der Priester zu beachten. Als es still geworden war und er das zufriedene Pulsieren spürte, den Herzschlag der Tunishni, umwölkte sich sein Blick. Sein Gesicht rötete sich. Er blinzelte heftig, beschämt von der Tränenflut, die sich über seine Wangen ergoss. Hastig wischte er die Tränen mit der Handkante ab, denn er fürchtete, irgendjemand – vielleicht einer der Priester – könnte den Kopf hereinstrecken und ihn so sehen. Doch die Tränen strömten unablässig. Es begann mit dem Gedanken an Corinn, doch es ging nicht um sie allein. Die Trauer über das Schicksal, das er ihr zugedacht hatte, vermischte sich mit Furcht vor den Mächten, die freizusetzen er im Begriff war. Die Tunishni. Ein boshaftes Pantheon seiner ehrwürdigen Ahnen. Wie sehr er sie fürchtete. Wie sehr er sie verabscheute. Sein ganzes Leben hatte er unter dem Joch ihrer Feindseligkeit verbracht, und jetzt würde er ihnen bald von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, Männern aus Fleisch und Blut, beseelt von einer verfälschten Version der Sprache des Schöpfers.
    Als er noch ein Kind war, hatte ihn sein Vater häufig in die Totenkammer von Tahalia mitgenommen. Heberen hatte Hanishs Stirn auf den kalten Boden gedrückt und ihn gezwungen, stundenlang so zu verharren. Er hatte ihn allein gelassen und gesagt, er müsse lernen, die Stimmen der Ahnen zu hören. Nur wenn er sie höre, könne er ihnen dienen. Und ihnen zu dienen sei das Wichtigste im Leben. Wie hatte er sich gefürchtet! Allein im Dunkeln, das zornige Geschrei der Geister im Ohr, umgeben von hunderten Leichnamen, die gleichzeitig tot und lebendig waren. Er hatte kaum zu atmen gewagt, so deutlich war ihm bewusst, dass er sie mit jedem Atemzug einsog. Und er hatte sie gehört, laut und deutlich. Jeden Tag seines Lebens hatte er sie auf die eine oder andere Weise gehört.
    Schon als Junge hatte er fragen wollen, weshalb die Ahnen sich so sehr nach dem Leben sehnten. Wenn das Leben nur ein Vorspiel des Todes war – und wenn die Lebenden die Diener der Dahingeschiedenen waren -, warum verlangten die Alten dann so sehr danach, wieder auf Erden zu wandeln? Diese Frage trug er seit seinem achten oder neunten Lebensjahr mit sich herum. Doch er hatte sie nie gestellt. Er fürchtete sich davor, damit eine Lüge zu enthüllen, die seinen Ahnen Schmach bereitet und ihn selbst auf irgendeine unwiderrufliche Weise bloßgestellt hätte. Und was blieb ihm jetzt, Jahrzehnte später, anderes übrig, als an der Lüge festzuhalten? Stets hatte er auf dieses Ziel hingearbeitet. Wenn er damit scheiterte, sie zu erwecken, hätte er das Hauptziel seines Lebens verfehlt. Deshalb sprach er sich Mut zu. Haleeven hatte recht. Die Tunishni hatten mit ihm die richtige Wahl getroffen.
    Als er die Totenkammer verließ, waren seine Tränen getrocknet, doch wie er herausfand, würde er schon bald neue brauchen. Auf dem Gang prallte er mit seinem Sekretär zusammen, der in vollem Lauf angestürmt kam. Als sie beide sich wieder gefasst hatten, streckte der Mann Hanish ein Papier entgegen und meinte, das sei soeben mit einem Botenvogel aus Bocoum eingetroffen.
    »Von meinem Bruder?«
    »Nein«, sagte der Mann mit unstetem Blick. »Die Nachricht ist nicht von ihm, aber es geht um ihn. Es wird darin von zwei Todesfällen berichtet.« Zitternd reichte er Hanish den Brief. »Bitte, Herr, Ihr werdet es selbst lesen wollen.«
    Als Hanish kurze Zeit später seine Gemächer betrat und Corinn erblickte, sah, wie sie sich erhob und ihm entgegenkam, so schön wie eh und je, bekleidet mit einem mit klingenden Glöckchen besetzten Kleid, das ihre Figur betonte und dessen Schleppe über den Steinboden schleifte, da wusste er, dass er genau der Betrüger, der Feigling, der Schurke war, den sie in ihm gesehen hätte, wenn sie ihn wahrhaft gekannt hätte. Dennoch stürzte er sich in ihre Umarmung. Er hörte sich ihr die Neuigkeiten berichten und schwelgte in dem Trost der Augenblicke, die folgen würden. Sie würden sich gegenseitig trösten. Sie würden gemeinsam trauern. Sie würde ihn noch nicht hassen, denn nur sie beide auf der ganzen Welt teilten in diesem Moment genau den gleichen Schmerz.
    Also dachte er daran und versuchte zu vergessen, dass er sie morgen töten würde.

68

    »Wie kannst du tot sein?«, fragte Mena zum hundertsten Mal. Es war spät am Abend nach Alivers Zweikampf, und sie saß auf ihrer Schlafdecke. Das Zelt hing schlaff um sie herum, denn es wehte

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