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Acacia 01 - Macht und Verrat

Acacia 01 - Macht und Verrat

Titel: Acacia 01 - Macht und Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Anthony Durham
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Dichtungen, die von unseren Barden vorgetragen werden. Auch Streitfälle müssen vor Gericht in Versen vorgebracht werden. Euch mag das seltsam erscheinen, doch es lockt auch bei komplizierten Rechtsstreitigkeiten Publikum an.«
    »Sehr eigenartig«, meinte Corinn, obwohl es ihr gar nicht so abwegig vorkam. Um an Gerichtsprozessen teilzunehmen, fehlte es ihr an der nötigen Geduld. Doch wenn die Regierungsbeamten alle in Versen sprächen, würde sie es vielleicht durchstehen.
    »Ihr seid der älteste Sohn Eurer Familie?«, fragte Corinn.
    Igguldan nickte. »Ja. Nach mir kommen noch drei Brüder und zwei von der Zweitfrau meines Vaters.«
    Corinn wollte eine Braue hochziehen, allerdings führte dies nur dazu, dass beide Brauen sich kräuselten. »Zweitfrau?«
    »Nun ja... Mein Vater hat die alten Regeln wieder in Kraft gesetzt und sich zwei Frauen genommen, um die Thronfolge sicherzustellen. Eigentlich bestand dazu kein Anlass... aber er hat es eben sehr genau genommen.«
    »Ich verstehe. Beabsichtigt Ihr ebenfalls, es sehr genau zu nehmen?«
    »Nein, ich werde nur einmal heiraten.«
    Sie hatten den Hochbalkon an der Rückseite des Ruheplatzes des Königs erreicht. Corinn legte die Fingerspitzen auf die Balustrade und wendete den Blick auf das vor ihnen ausgebreitete grünlich-blaue Meer. »Das sagt Ihr jetzt. In Eurer Heimat gibt es bestimmt zahllose Schönheiten – genug, dass ein Mann sich mit mehr als einer vermählen kann.«
    »Ihr irrt Euch. Betrachtet es genau andersherum. Die Frauen besitzen nur halb so viele Vorzüge wie die Acacierinnen. Glaubt mir...« Der Prinz berührte Corinns Handrücken. »Prinzessin, an dem Tag, da Ihr die Güte haben werdet, Euren Fuß auf aushenischen Boden zu setzen, wird man Euch als schönste Frau des Landes rühmen, und ich werde der Erste unter Euren Bewunderern sein.«
    Der Prinz hätte keine wirkungsvolleren Worte wählen können, um sich Corinns Gunst zu versichern. Mit diesem einen Satz hatte er ihr ein Kompliment gemacht, auf seine beständige Treue angespielt und ihr allumfassende Bewunderung versprochen. Ein paar Sekunden lang stand sie stumm da, und ihre Finger kribbelten; sie malte sich die Möglichkeit aus, dass sie ihr Leben als Schwan inmitten von Enten verbringen könnte. Dann gab sie dem Prinzen eine bescheidene Antwort und setzte den Rundgang fort, nahm sich jedoch vor, alles über Aushenia in Erfahrung zu bringen, was sie herausfinden konnte. Vielleicht hatte sie gerade ihren zukünftigen Gemahl gefunden. Es war allgemein bekannt, dass Acacia und Aushenia danach strebten, sich zu verbünden. Ihre Heirat wäre ein politischer Handstreich. Sie könnte die Prinzessin eines Volkes und Königin eines anderen sein. Das waren rosige Aussichten.

9

    Leeka Alain hatte sich über seine Bedeutung für den Lauf der Geschichte des Reiches nie viele Illusionen gemacht. Niemals in seinen achtundvierzig Lebensjahren – von denen er die Hälfte in der Armee zugebracht hatte – war ihm der Gedanke gekommen, er habe eine besondere Bestimmung. Er war Soldat, einer von vielen, die namenlos aus dem Nebel der Geschichte hervormarschiert waren. Das hatte er jedenfalls bis zu einem bestimmten Augenblick geglaubt, als er die Augen aufschlug und aus einem leeren Schlummer erwachte. Ein simpler Akt, den er bereits Tausende von Malen in seinem Leben vollzogen hatte. Doch diesmal war es, als würde er neu geboren. Eben noch nichts. Und dann gaben seine Lider flatternd den Blick auf die Schöpfung frei, eine bisher unvorstellbare Welt, die Dinge von ihm verlangte, von denen er niemals geahnt hatte, dass sie möglich wären.
    Zunächst beschränkte sich diese Welt auf ein schlichtes weißes Viereck, eine unregelmäßige geometrische Form, ein Leuchten inmitten formloser Schwärze. Er versuchte, sich aufzurichten und mit den Gliedmaßen, die er vage als Hände, Arme, Beine und Füße begriff, irgendwo Halt zu finden. Doch er konnte sich nicht bewegen. Eine Weile starrte er vor sich hin, ohne zu verstehen, ohne Orientierungspunkt und ohne Zusammenhang. Erst als etwas das helle Viereck durchschnitt – ein rasches Dahinhuschen, das im selben Moment auftauchte und verschwand -, regte er sich wieder. Er beobachtete das helle Viereck lange genug, um die Bewegung abermals zu bemerken. Ein Vogel. Es war ein Vogel, eine Schwinge, aus der schattenhaften Tiefe erkannt. Und dahinter wallte die Schöpfung, eine scharf umgrenzte milde Helligkeit, in der er schließlich den bewölkten arktischen Himmel

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