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Acacia 02 - Die fernen Lande

Acacia 02 - Die fernen Lande

Titel: Acacia 02 - Die fernen Lande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Anthony Durham
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dem Gemurmel, das gefolgt war. Wahrscheinlich einer der benachbarten Bauern, hatte er gedacht, der wegen eines mitternächtlichen Missgeschicks um Hilfe bat. Bei dem Hof drüben bei den Sümpfen hatte es Probleme mit Schafdieben gegeben. Vielleicht wollten sie eine Verfolgungsjagd abhalten.
    »Ravi«, hatte Mór in ihrem Bett auf der anderen Seite des Zimmers geflüstert, »wer ist das?«
    Er hatte sie mit einem Psst zum Schweigen gebracht. Dann hatte er seine Decke zurückschlagen und auf Zehenspitzen zur Tür schleichen wollen, um durch den Spalt zu lauschen, aber er war nicht weiter gekommen, als die Decke zwischen die Fingerspitzen zu nehmen.
    Aus dem Hauptraum ertönte ein Schrei, gefolgt von einem Poltern, als wenn etwas umgeworfen wurde – ein Stuhl, dachte er –, und dem Scharren von Füßen auf dem Fußboden aus festgestampfter Erde. Verwirrt erstarrte er mitten in der Bewegung. Noch ein Schrei und geflüsterte Flüche, und dann dumpfe Geräusche, die er zunächst nicht einordnen konnte. Und dann konnte er es doch: Schläge! Faustschläge, die auf menschliche Körper trafen. Das ergab alles überhaupt keinen Sinn. Er schwang die Beine aus dem Bett, setzte leise die Füße auf den Boden. Das Licht, das zwischen Tür und Rahmen hereindrang, veränderte sich, es tanzte und wurde heller. Er beobachte es, während er hörte, wie Mór scharf die Luft einsog.
    Die Tür zu ihrem Zimmer schwang jäh nach innen, aufgetreten von einem Fuß in einem Stiefel. Grausam helles Fackellicht erhellte den Raum. Und in diesem Licht tauchten Männer auf, untersetzt, in Rot gekleidet. Der erste schritt quer durch den Raum und packte Ravi mit einer Hand fest im Genick. Er beugte sich vor und musterte den Jungen, die Fackel so nah bei seinem Gesicht, dass seine Züge ein unentwirrbares Durcheinander aus hellen Flächen und Schatten war. Ein zweiter Mann ging zu Mór. Er war sanfter, legte ihr einen Finger unters Kinn und drehte ihren Kopf so, dass der erste Mann ihr Gesicht sehen konnte.
    »Ja«, sagte er, während er sie beide abwechselnd ansah, »ihr seid zwei Seiten der gleichen Münze. Ihr beide seid eins; ihr habt euch den Bauch geteilt und teilt nun euer Schicksal. Eure Ratsherren haben uns die Wahrheit gesagt. Steht auf. Los, hoch mit euch, alle beide. Wir tun euch nichts, wenn ihr euch ruhig verhaltet.«
    Er war so sachlich, so beiläufig einschüchternd, dass Ravi auf den Beinen stand, bevor er überhaupt wusste, was er tat. Er und Mór wurden durch den Türrahmen in den Hauptraum geschoben. Was Ravi dort sah, blieb nur in Bruchstücken in seiner Erinnerung hängen, als zusammenhanglose, zwischen ruckartigen Bewegungen – Geschobenwerden und Dahinstolpern – gefangene Bilder. Er sah das Gesicht seiner Mutter, ihr Mund stand offen, und ihre Zähne wirkten wie die Fänge eines Wolfs oder Bären. Wild blickte er sich um, suchte nach seinem Vater. Er konnte ihn nirgends entdecken, stattdessen fiel sein Blick auf einen Tumult beim Herd: mehrere Männer, deren Arme und Beine sich bewegten wie die eines Ungeheuers. Er sah seinen Vater nicht, konnte seinen Körper in dem Durcheinander nicht ausmachen, aber Ravi wusste, dass er sich in der Mitte des Tumults befand.
    Der Junge wurde grob zur Tür geschoben. Sein Fuß blieb am Türrahmen hängen, und er fiel der Länge nach in die Nacht. Er schlug hart mit Unterarmen und Ellbogen auf dem Boden auf, rollte weiter, und konnte einen Moment lang klar denken, während er die Gestalten auf sich zuschreiten sah. Rote Umhänge. Sie trugen rote Umhänge! Das bedeutete, dass er und Mór von den Fressern mitgenommen werden würden! Ältere Jungen hatten Geschichten über solche Sachen erzählt, hatten gesagt, der König im Süden schicke von Zeit zu Zeit Jäger durch Candovia, auf der Suche nach Kindern, die sein Gott so gerne verschlang. Ravi hatte das nie geglaubt. So etwas war zu seinen Lebzeiten nie passiert, und er wusste, dass ältere Jungen grausam waren und logen. Jetzt jedoch griff ein Mann nach ihm, sein Vater war unter einer wogenden Masse von Gliedern eingeklemmt, seine Mutter machte ein Wolfsgesicht, und seine Schwester schrie, weil irgendjemand grob zu ihr war.
    Der Zorn erfüllte ihn binnen eines Augenblicks so vollständig, als hätte man Öl in ein Feuer gegossen. Heftig trat er nach dem Mann, der ihn packen wollte, streifte aber nur sein Schienbein. Das machte ihn nur noch wütender, und er trat wieder und wieder zu; seine Beine wirbelten, während er sich auf dem

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