Acacia 02 - Die fernen Lande
Er fuhr mit den Fingern durch den feuchten Sand und spürte die Beschaffenheit der Körnchen.
Als Mór nicht antwortete, wandte Ravi sich ihr zu und musterte sie im gelblichen Licht der Feuerstellen, die ihr Lager umgaben. Er packte sie an beiden Handgelenken und drückte so kräftig zu, dass er wusste, es tat ihr weh. »Bleib nicht einfach stumm. Schwöre, dass du es nicht tun wirst!«
Mór sah elend aus. »Ravi, wie könnte ich das? Du siehst sie doch.«
Er schob sich dicht an sie heran. »Schwöre es! Gib dich ihnen nicht geschlagen. Niemals.«
Wieder protestierte sie. Sie würde gehorchen müssen, behauptete sie, wies darauf hin, was sie ihr antun würden, wenn sie ihnen nicht gehorchte. Ravi schnitt ihr das Wort ab.
»Du hörst nicht zu«, sagte er. »Was ich meine, ist, du sollst niemals glauben, dass du eine Sklavin bist, ganz egal, wozu sie dich auch zwingen. Die Rotmäntel sagen, wir gehören jetzt irgendwelchen anderen Leuten. Sie sagen, wir sind nicht unsere eigenen Herren, und wir haben keine Eltern. Aber sie sind Lügner. Das ist es, woran du dich erinnern sollst. Glaubst du, dass sie Lügner sind?«
Er wartete, bis Mór nickte, ehe er fortfuhr: »Vergiss das nicht. Lass nicht zu, dass ihre Lügen für dich zu Wahrheiten werden. Vergiss niemals, dass du Mór bist, Ravis Schwester, das Kind unserer Eltern. Versprich mir das.«
Sie versprach es, und er ließ ihre Handgelenke los. »Warum sagst du das alles?«, fragte Mór. »Du tust, als wären wir getrennt, aber das sind wir doch gar nicht. Sei einfach still und mach sie nicht auf dich aufmerksam, dann lassen sie uns zusammenbleiben.«
Ravi sagte nichts, und er war froh, als sie nicht von ihm verlangte, es ihr zu schwören, so wie er es getan hatte.
Irgendwann mitten in der Nacht entschied er, was er tun würde. Und das war das Gegenteil davon, sich unauffällig zu verhalten. Mór würde es nicht verstehen, aber wenn ihm das gelang, was er glaubte schaffen zu können, würde sie es später einmal begreifen. Er wusste nicht genau, wie er es anstellen würde, aber er beschloss, es zu versuchen. Und er spürte, dass er den richtigen Augenblick erkennen würde, wenn er gekommen war.
Kleiner als die eigentlichen Gildenschiffe, waren die Kähne, die sich am nächsten Morgen dem Ufer näherten, um die Kinder aufzunehmen, die größten von Menschenhand geschaffenen Gebilde, die Ravi jemals gesehen hatte. Eine Flotte flacher, rechteckiger Flöße zog sich weit entlang des Ufers hin und drückte die Wellen unter sich nieder. Die Flöße bestanden aus einem schiefergrauen, merkwürdig stumpfen Material, das das Licht der aufgehenden Sonne einzufangen schien. Ravi konnte nicht sagen, wie sie sich von der Stelle bewegten, aber irgendetwas trieb sie an, langsam und unaufhaltsam. Und auf ihnen standen Menschen. Nicht viele, und sie waren nicht nahe genug, als dass er sie hätte deutlich ausmachen können. Doch auf einem der näheren Kähne stand eine Gruppe aus fünf Gestalten auf einer erhöhten Plattform. Sie bewegten sich nicht und waren anfangs nicht mehr als Silhouetten, doch Ravi war sich sicher, dass sie ihn alle ansahen.
Die Kinder am Strand starrten aufs Meer hinaus, als wären diese geräuschlosen Dinge und diejenigen, die sich darauf befanden, furchterregender als alles, was sie bis jetzt gesehen hatten. Sie begannen zu murmeln und zu flüstern. Ein Junge unweit der Zwillinge sagte: »Das ist Zauberei.« Niemand widersprach ihm.
»Macht euch bloß nicht in die Hosen«, sagte einer der Soldaten und lachte laut. »Jetzt schau sich einer euch an. Glotzt mit offenem Maul wie die Karpfen!«
Ein anderer Soldat sagte etwas über den Geruch nach beschmutzter Unterwäsche. Und ein dritter – der ein bisschen weiter weg war und mit ausgebreiteten Armen vorwärts schritt, um die Kinder vor sich herzutreiben – machte einen Witz über den riesigen Hackklotz, der auf sie zukam.
»Warum tun sie das?«, überlegte Ravi laut. »Warum machen sie uns noch mehr Angst?«
Seine Schwester, die seine Hand hielt, antwortete nicht.
Die Kähne kamen näher. Die Gestalten, die auf der erhöhten Plattform standen, waren jetzt deutlicher zu erkennen. Sie trugen Kapuzenumhänge in dem gleichen leblosen Grau wie die Schiffe. Die Brandung unter den Kähnen wogte heran, griff nach den Füßen der Kinder. Sie wichen ein wenig zurück, spürten den Druck derjenigen, die hinter ihnen standen, und gerieten in Panik. Die Angst breitete sich in Windeseile aus. Während das
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