Acacia
deshalb waren sie stets das Erste gewesen, was Corinn bei Betreten des Zimmers auffiel. Die wochenlange Bettlägerigkeit hatte Aleera dermaßen geschwächt, dass sie es ohne die Hilfe ihrer Tochter nicht mehr zum Fensterschemel schaffte. Ihre Füße fanden keinen Halt mehr auf dem Boden. Und so stützte Corinn ihre Mutter, deren Fersen hilflos in der Luft kreisten wie bei einem Kind, das die ersten Schritte macht.
Dies verhalf dem jungen Mädchen zu der Erkenntnis, dass die Welt größere Schrecken bereithielt, als sie sich in ihren schlimmsten Albträumen ausmalen konnte. Was war aus der allmächtigen Mutter geworden, die stets wusste, was ihre Tochter beschäftigte, noch ehe diese es aussprach, und die über Corinns Angst vor Drachen, Riesenschlangen und Ungeheuern gelacht hatte? Wo war die Heldin, die solche Wesen allein durch ihre Gegenwart verjagt hatte, durch ihr Lächeln oder indem sie Corinns Namen aussprach? Wo war die Schönheit, neben der Corinn gesessen hatte, wenn sie sich für offizielle Anlässe zurechtmachte, die Frau, an der alle anderen gemessen wurden? Es erstaunte sie noch immer, wie schnell die Dinge sich ändern konnten, ohne dass sie auch nur die geringste Ahnung gehabt hätte, was das alles zu bedeuten hatte.
Diese Erfahrung war umso schmerzhafter, als sie sich noch im kleinsten Teil des sterbenden Leibes ihrer Mutter wiedererkannt hatte. Von ihr hatte sie die Gesichtsform, die Lippen, das Faltenmuster auf der Stirn. Sie hatten beide ganz ähnliche Hände gehabt, sie hatten sich auf die gleiche Weise verjüngt und waren gleich lang gewesen, bis zu der Form der Knöchel, den schmalen Fingernägeln und dem abgespreizten kleinen Finger. Die Zehnjährige hatte diese gealterten, kraftlosen Hände gehalten, welche die ihren hätten sein können, und dabei das eigentümliche Gefühl gehabt, die Vergangenheit verschmelze mit der Gegenwart oder die Gegenwart mit der Zukunft.
Obwohl sie sich die Tage oft mit jugendlich zuversichtlichen Träumereien verschönte, nagte die Angst an ihr, sie werde das Jahr nicht überleben. Oder aber sie werde erst alles gewinnen, es wieder verlieren und dann sterben. Dieses Gefühl hatte sie mit zehn gehabt, mit elf, mit zwölf und so weiter, doch es war noch immer so stark wie eh und je. Diese finsteren Vorstellungen mit ihrer überschäumenden Jugend in Einklang zu bringen, war denkbar verwirrend. Ihre düsteren Gedanken, die sie quälten und derer sie sich schämte, verbarg sie, so gut sie es vermochte. Häufig rief sie sich in Erinnerung, dass jedes Lebewesen irgendwann sterben müsse und dass sich nur wenigen solch vielfältige Möglichkeiten boten wie ihr. Und vielleicht täuschte sie sich ja auch. Vielleicht würde sie ein langes, glückliches Leben führen; vielleicht würde sie sogar eine Möglichkeit finden, ewig zu leben, ohne zu altern und ohne krank zu werden.
An dem Morgen, an dem sie eine Abordnung der Nation Aushenia begrüßen sollte, betrachtete Corinn ihr Gesicht lange im Spiegel der Frisierkommode. Sie nahm einen Rosshaarpinsel zur Hand, um die Schminke aufzutragen. Vorsichtig tauchte sie ihn in den Puder aus zermahlenen Muscheln und verteilte ihn auf den Wangen. Sie hoffte, dass der Glanz des Puders genau zu den funkelnden Silberfäden des eng geschnittenen Kleids passen würde, das ihre Figur so vorteilhaft betonte. Trotz ihrer düsteren Gedanken freute sie sich auf die nächsten Tage. Im Unterschied zu Aliver würden ihr die öden Formalitäten der offiziellen Beratungen erspart bleiben, doch anders als Mena und Dariel war sie alt genug, um ebenfalls offizielle Aufgaben wahrnehmen zu können. Diesmal sollte sie Igguldan, den aushenischen Prinzen, in Empfang nehmen und herumführen.
Obwohl ihre Zofe sie darauf hingewiesen hatte, dass es heute kalt werden würde, trug sie unter dem Kleid nur ein dünnes Hemd. Kälte mache ihr nichts aus, beteuerte sie, doch plump wollte sie auf keinen Fall aussehen. Als einziges Zugeständnis an das Wetter entschloss sie sich, einen weißen Pelzschal zu tragen, den man ihr gerade erst aus Candovia geschickt hatte. Corinn legte ihn sich um den Hals und hakte die Schließe zu. Sie fand, dass der Schal ihr eine gewisse Eleganz verlieh. Jedenfalls hoffte sie das, denn es fiel ihr leichter, sich für die drei warmen Jahreszeiten Acacias passend zu kleiden. Im Umgang mit kaltem Wetter fehlte es ihr einfach an Erfahrung.
Corinn erwartete den aushenischen Prinzen auf der Eingangstreppe der Tinhadin-Halle. Sie war
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