Accelerando
verkaufen will.
»Ich kandidiere ja nicht als Mutter der Nation. Ich kandidiere,
weil ich der Meinung bin, dass uns höchstens noch eine Milliarde
Sekunden bleibt, um aus dieser Mausefalle von Gravitationstrichter zu
entwischen. Und zwar ehe unser missratener Nachwuchs ernsthaft
daran geht, unsere CPU-Zyklen wie im finstersten Mittelalter zu
behandeln. Und wenn wir die Wähler und Wählerinnen nicht
dazu bringen können, mit uns mitzukommen, sind sie dem Untergang
geweiht. Am besten, wir suchen nach etwas Praktischerem, das wir mit
entsprechender Bedeutung aufladen können.«
»Wie deine Krönungsrobe?«
Amber zuckt zusammen. »Touché.« Das
Ring-Imperium ist tot, genauso tot wie alles, was von der Verfassung
des Orbitals aus früheren Zeiten übrig geblieben ist. Und
Amber kann sich glücklich schätzen, dass sie in diesem
kalten neuen Zeitalter überlebt hat, wenn auch nur als
Privatperson am Rande des Strahlenkranzes. »Ach, das war doch
nur Staffage. Damals war mir selbst nicht ganz klar, was ich
tat.«
»Willkommen im Alter der Reife und Erfahrung.« Annette
lächelt gedankenverloren, da sie sich dunkel an etwas erinnert.
»Du fühlst dich zwar gar nicht älter, aber
diesmal weißt du, was du tust. Manchmal frage ich mich, was
Manfred davon ’alten würde, wäre er
’ier.«
»Dieses Spatzenhirn«, wehrt Amber ab. Die Vorstellung,
ihr Vater könnte irgendetwas beisteuern, ärgert sie. Hinter
Annette geht sie an einer schnatternden Schar bettelnder
Wanderprediger vorbei, die irgendeine neue Religion verkünden,
und betritt ein echtes Modehaus, das tatsächlich mit
menschlichem Personal und Anprobekabinen ausgestattet ist, damit die
Kleidung maßgerecht zugeschnitten werden kann. »Wenn ich
unterschiedliche Verkörperungen von mir zielgerichtet auf
bestimmte Wählergruppen loslasse, ist es dann nicht ein bisschen
widersinnig, ein einzigartiges Image anzustreben? Ich meine, wir
könnten ja sogar so sehr ins Detail gehen, dass wir für
jeden einzelnen Wähler eine auf ihn abgestimmte
Verkörperung von mir kreieren…«
»Viel-leicht.« Die Tür in ihrem Rücken wandelt
sich wieder zum geschlossenen Eingang. »Trotzdem brauchst du
eine Kernidentität.« Annette schaut sich um und sucht den
Blick des Verkaufsberaters. »Und als Erstes ein unverkennbares
Design, einen Stil. Ausgehend von diesem Kern, können wir uns
dann vorarbeiten und dich auf dein jeweiliges Publikum zuschneiden.
Außerdem ist ’eute Abend ja… Ah, bonjour!«
»Hallo, können wir Ihnen irgendwie behilflich
sein?« Die beiden Verkäuferinnen und der Verkäufer,
die vor den Exponaten auftauchen – gezeigt wird ein historischer
Streifzug durch die Haute Couture, bei dem Laufsteg-Models
Jahrhunderte der Mode miteinander vermischen und zusammenfügen
–, sind eindeutig Teile einer gemeinsamen
Primärpersönlichkeit, Einzelverkörperungen, die eine
ins Extreme gesteigerte Modebesessenheit miteinander verbindet. Falls
sie keinen Mode-Borganismus im eigentlichen Sinne darstellen, sind
sie zumindest nicht weit davon entfernt. Von Kopf bis Fuß in
Originalkopien anspruchsvollster Chanel- und Armani-Kreationen
gewandet, stehen sie für die klassische Mode des zwanzigsten
Jahrhunderts. Das hier ist nicht einfach irgendein Laden, es ist ein
Tempel, in dem eine ganz spezielle Kunstform zelebriert wird. Und die
hier Angestellten sind zu Hütern des Geheimnisses guten
Geschmacks ausgebildet, das nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten
bekannt ist.
»Mais oui. Wir suchen nach einer Garderobe für
meine Nichte.« Annette geht kurz die vielfältigen modischen
Ideen durch, die im Cache dieses Geschäftes aufgezeichnet sind,
und übermittelt der Verkaufsleiterin ein Anforderungsprofil, das
einer ihrer persönlichen Agenten gerade zusammengestellt hat.
»Sie geht in die Politik, und dabei ist ihr Image
wesentllich.«
»Es wäre uns ein Vergnügen, Ihnen behilflich
zu sein«, schnurrt die Geschäftsführerin und tritt
einen winzigen Schritt vor. »Vielleicht könnten Sie uns
sagen, was Sie sich vorstellen?«
»Oh. Also gut.« Amber holt tief Luft und wirft Annette
aus den Augenwinkeln einen Blick zu, den sie ohne mit der Wimper zu
zucken erwidert. Es ist dein Kopf, übermittelt sie Amber.
»Ich engagiere mich für das Regierungsprogramm der Accelerationista. Sagt Ihnen das etwas?«
Die Chefin des Couture-Borgs runzelt leicht die Stirn, sodass sich
eine Doppelfalte zwischen ihren völlig symmetrischen Augenbrauen
bildet. Sie sind so gezupft, dass sie
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