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Accelerando

Accelerando

Titel: Accelerando Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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hierher
gekommen, um sich den Kopf mit seltsamen Substanzen zuzudröhnen.
Anstelle von Automobilen ist hier eine verwirrende Vielfalt von
individuellen Transportmitteln zu sehen – von drehstabilisierten
Pogo Sticks und Elektrorollern bis zu Kettenkrads und
Dreifuß-Sänften –, und alle kämpfen sie mit den
Fußgängern und Tieren um den nötigen Platz.
    Zwei Frauen bleiben vor einer interaktiven Auslage stehen, die man
in früheren Jahrhunderten vielleicht als Schaufenster einer
Modeboutique bezeichnet hätte. Die Jüngere (sie ist blond,
hat das Haar zu unzähligen Zöpfchen geflochten und
trägt schwarze Leggings, ein T-Shirt im Tarnmuster und
darüber eine lange schwarze Lederjacke) deutet auf ein kunstvoll
gearbeitetes Kleid im Retro-Look. »Würde mein Hintern darin
nicht riesig wirken?«, fragt sie skeptisch.
    »Ma chérie, du musst es nur mal
anprobieren…« Die andere Frau (sie ist groß und
trägt einen formellen Herrenanzug mit Nadelstreifenmuster, der
aus einem früheren Jahrhundert stammt) übermittelt dem
Fenster schnell eine Nachricht. Sofort beginnt die Schaufensterpuppe
zu morphen, simuliert den Kopf der jungen Frau und nimmt deren
Haltung und Ausdruck an.
    »Ich hab den echten Einzelhandel nie mitbekommen, weißt
du? Empfinde es immer noch als verrückt, an einen Ort
zurückzukehren, wo es tatsächlich Geschäfte gibt. Das kommt davon, wenn man allzu lange nur auf Archive mit
Designs der Public Domain zurückgegriffen hat.« Amber
schwenkt probeweise die Hüften. »Weiß gar nicht mehr,
wie das ist, irgendwo herumzustöbern. Und bin mir auch
nicht darüber im Klaren, was ich von dieser Retro-Sache
überhaupt halten soll. Die Stimmen der Viktorianer sind uns doch
recht sicher, oder meinst du…« Sie führt den Satz
nicht zu Ende.
    »Du stehst für ein Programm des einundzwanzigsten
Jahr’underts und willst es Simulationen und Reinkarnationen von
Wählerinnen und Wählern verkaufen, die ursprünglich
aus dem Goldenen Zeitalter stammen. Und du ’ast Recht, die
Turnüre lässt deinen ’intern größer wirken.
Aber…« Annette wirkt nachdenklich.
    »Hm.« Als Amber die Stirn runzelt, dreht sich die
Schaufensterpuppe zu ihr um und wackelt so mit den Hüften, dass
Röcke und diverse Unterröcke über den Boden fegen.
»Wenn wir diese Wahlscheiße wirklich durchziehen
wollen«, sagt Amber mit noch finstererem Blick, »muss ich
nicht nur die Simulationen überzeugen, sondern auch meine
Zeitgenossen – und dabei zählt nicht mein Image, sondern
der Inhalt des Wahlprogramms. Die haben schon allzu viele
Medienschlachten miterlebt und sind immun gegen jedes rein
rhetorische Geschwätz, bei dem sie nichts Neues erfahren. Wenn
ich die Wahlkampagne so anlege, als wollte ich nur auf bestimmte
Knöpfe drücken…«
    »Sie werden auf den In’alt achten, und nichts, das du an
’ast oder redest, wird sie zum Umschwenken bringen. Über
diese Leute musst du dir nicht den Kopf zerbrechen, ma
chérie. Anders steht es mit den naiven Simulationen, mit
den Neuverkörperungen. Die kann man vielleicht so oder so beeinflussen. Dies ist dein erster kühner Ausflug in
die Demokratie – seit wie vielen Jahren? Deine
Privatsphäre, die kannst du jetzt vergessen. Die Frage ist:
Welches Image willst du ausstrahlen? Die Leute werden dir nur
zu’ören, wenn es dir gelingt, die Aufmerksamkeit auf dich
zu ziehen. Außerdem stehen die unentschiedenen Wähler, die
du erreichen musst, unter Zukunftsschock und sind ängstlich. Und
dein Wahlprogramm ist radikal. Wäre es nicht am besten, wenn du
dich mit einem beruhigend konservativen Image
umgäbest?«
    Ambers Grimasse drückt ihren leichten Widerwillen gegen das
ganze populistische Programm aus. »Ja, das muss ich wohl, falls
nötig. Aber wenn ich genauer darüber nachdenke, ist das
da«, sie schnippt mit den Fingern, »einfach zu viel des
Guten.« Auf das Schnippen hin dreht sich die Kleiderpuppe
nochmals um, ehe sie wieder ihr neutrales Aussehen annimmt. An die
Stelle von Ambers Kopf rücken zwei Scheiben mit perfekt
ausgerichteten Strahlern.
    Amber erspart es sich, die Meinungen verschiedener komplexer
Charaktere einzuholen, die Modekritiker und Wahlforscher in einer
Person sind. Sie weiß auch so, dass das viktorianisch-kretische
Modemix mit seiner fetischistischen Betonung von Brust und Arsch fehl
am Platz ist, wenn sie sich den Randgruppen aus dem neunzehnten
Jahrhundert, den Leuten, die erst nach der Singularität
wiederauferstanden sind, als seriöse Politikerin

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