Accelerando
auf einen
Sonderauftrag. Allerdings hat Pamela nie wieder von sich hören
lassen, mal abgesehen von den sarkastischen Postkarten, die sie jedes
Jahr pünktlich zum Geburtstag der gemeinsamen Tochter schickt,
die Manfred nie gesehen hat. Oder die Mafia der Musikindustrie?
Eine Briefbombe, mit herzlichen Grüßen der Copyright
Control Association of America? Unmöglich. Der Monitor zur
Überwachung von Manfreds Körperfunktionen hätte
lauthals Alarm gegeben, falls so etwas passiert wäre.
Annette hat dafür gesorgt, dass die Diebe geistigen Eigentums
nicht an Manfred herankommen können. Sie hat ihm die
Unterstützung gegeben, die er so dringend braucht. Und er hat
ihr im Gegenzug geholfen, den eigenen Weg zu finden. Immer wenn sie
daran denkt, wie viel sie gemeinsam erreicht haben, überkommt
sie ein Glücksgefühl. Genau deswegen ist sie jetzt
beunruhigt. Der Wachhund hat nicht angeschlagen…
Sie bestellt sich ein Taxi zum Flughafen Charles de Gaulle. Als
sie dort ankommt, hat sie ihren Diplomatenpass bereits dazu benutzt,
einen Platz Erster Klasse in der nächsten A 320 nach Edinburgh
zu ergattern. Außerdem hat sie bereits ein Hotelzimmer gebucht
und sich um den Transfer vom Flughafen Turnhouse in die Innenstadt
gekümmert. Das Flugzeug ist schon über La Manche, als ihr
aufgeht, auf was Giannis letzte Bemerkung abgezielt hat. Meint er
tatsächlich, dass das Franklin-Kollektiv Manfred gefährlich
werden könnte?
Die Notaufnahme der Klinik hat ein Wartezimmer mit Schalensitzen
aus grünem Kunststoff. An den Wänden sind 3-D-Scans in
Falschfarbendarstellung befestigt, die von Zehn- bis
Zwölfjährigen stammen und wie skurrile Lego-Skulpturen
wirken. Es herrscht tiefe Stille, denn die einzigen Geräte,
welche die in der Klinik verfügbare Bandbreite nutzen
dürfen, sind medizinische Überwachungsapparate. Zwar gibt
es auch hier einen gewissen Geräuschpegel -Kinder weinen,
Sirenen heulen, wenn Krankenwagen vorfahren, die Menschen ringsum
unterhalten sich miteinander –, aber dennoch kommt es Manfred so
vor, als befände er sich auf dem Grunde eines tiefen blauen
Meeres der Stille. Er fühlt sich so, als wäre er auf Drogen
– allerdings auf Drogen, die weder Euphorie noch Wohlgefühl
bewirken. Im Gangwinkel neben dem verriegelten und verrosteten
Büdchen der freiwilligen Helfer stehen Verkaufsautomaten, deren
Fächer bei Bedarf Kebab-Spieße ausspucken; Videokameras
überwachen die blauen Bivvy-Säcke, die neben der
Pflegestation für die chronisch Kranken aufgereiht sind. Allein
gelassen im eigenen Kopf, ist Manfred ängstlich und
verwirrt.
»Ich kann Sie hier nur einweisen, wenn Sie die
Vertraulichkeitsvereinbarung unterschreiben«, erklärt der
Krankenpfleger, der Notfallpatienten abfertigt, und hält ihm ein
altmodisches Klemmbrett mit Formular unter die Nase. Die staatliche
Gesundheitsversorgung ist zwar immer noch gebührenfrei, aber
inzwischen wurden gewisse Maßnahmen eingeführt, um
Skandale möglichst bedeckt zu halten. »Unterschreiben Sie
die Geheimhaltungsklauseln… hier… und hier…
Andernfalls wird sich der Assistenzarzt gar nicht erst mit Ihnen
befassen.«
Mit trüben Augen starrt Manfred auf die Nase des
Krankenpflegers, die rot und leicht entzündet ist – sicher
dank multiresistenter Krankenhauskeime… Schon wieder maunzen die
Handys vor sich hin, was haben sie denn nur? Normalerweise machen sie
das doch nicht. Irgendetwas muss ihm abhanden gekommen sein, aber es
fällt ihm schwer, darüber nachzudenken. »Warum bin ich
hier?«, fragt er zum dritten Mal.
»Unterzeichnen Sie das hier.« Der Pfleger drückt
ihm einen Kugelschreiber in die Hand. Als Manfred sich auf das
Formular konzentriert, melden sich tief verwurzelte Reflexe, er
fährt ruckartig hoch. »Das ist eine Verletzung meiner
Grundrechte! Es heißt hier, der Patient habe gegenüber
Dritten – damit sind die Medien gemeint! – Stillschweigen über die Prozeduren in der Notaufnahme und
alle Vorgehensweisen der oben genannten medizinischen Einrichtung
– das sind Sie – zu bewahren. Andernfalls verliere
er, gemäß Abschnitt zwei des Gesetzes zur Reform des
Gesundheitswesens, den Anspruch auf angemessene medizinische
Versorgung. Das kann ich nicht unterschreiben! Falls ich im Internet
bekannt gebe, wie lange ich in dieser Klinik gewesen bin,
könnten Sie ja meine linke Niere beschlagnahmen!«
»Dann lassen Sie’s eben.« Der afrikanische Pfleger
– offenbar ein Absolvent der bekannten Hirja-Pflegeschule
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