Accelerando
wenig zu den Worten, die Annette hört, dass sie Mühe
hat, ihm zu folgen, es ist wie bei einem schlecht synchronisierten
Film. Die teuren Implantate, über die sie seit kurzem
verfügt, sind noch nicht mit der Broca-Region verbunden, dem
Sprachzentrum in ihrem Gehirn, deshalb kann sie sich nicht einfach
ein Modul mit italienischer Basisgrammatik herunterladen. Die
Kommunikationsmittel, die Gianni und Annette verwenden, sind die
besten, die man für Geld bekommen kann, und ihre virtuellen
Möglichkeiten sind für sie maßgeschneidert, dennoch
kann all das die Sprachbarriere nicht völlig beseitigen.
Außerdem gibt es einiges, was Annette ablenkt: die Tatsache,
dass die Schreibtischplatte auf halber Länge von dunkler Esche
in Rosenholz übergeht, die seltsamen Luftströmungen, die in
einem Raum dieser Größe fehl am Platz erscheinen.
»Was könnte ihm denn passiert sein? Seine Voice Mail
versucht ihn abzuschirmen. Sie ist zwar gut, lügt aber nicht
sonderlich überzeugend.«
Gianni wirkt besorgt. »Manfred neigt dazu, seine Dinge im
Alleingang durchzuziehen, ohne es jemandem vorher mitzuteilen. Aber
das hier gefällt mir nicht. Er hätte einen von uns beiden
vorher benachrichtigen müssen.« Seit dem ersten Treffen in
Rom, bei dem Gianni ihm einen Job angeboten hat, gehört Manfred
zum engsten Kreis in Giannis Team; stets ist er derjenige, der die
Dinge ins Lot bringt, den Kontakt nach außen herstellt, sich
mit Leuten trifft und deren Probleme löst. In diesem Stadium auf
ihn verzichten zu müssen, wäre schlimmer als peinlich.
Außerdem ist er ein Freund.
»Mir gefällt das auch nicht.« Annette steht auf.
»Falls er nicht bald zurückruft…«
»… fährst du hin und holst ihn.«
»Oui.« In ihrem Gesicht blitzt kurz ein
Lächeln auf, das aber sofort wieder den Sorgenfalten weicht.
»Was kann passiert sein?«
»Alles Mögliche. Oder gar nichts.« Gianni zuckt die
Achseln. »Aber wir können nicht auf ihn verzichten.«
Er wirft ihr einen warnenden Blick zu. »Und auf dich auch nicht.
Lass dich nicht vom Borg schnappen. Dich nicht – und ihn auch
nicht.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich ’ol ihn einfach zurück,
egal, was passiert ist.« Als sie geht, erschreckt sie einen
Staubsauger, der sich an ihrem Schreibtisch herumdrückt. »Au revoir!«
»Ciao.«
Während sie ihr Büro verlässt, verschwindet die
Projektion des Ministers, und die hintere Zimmerwand nimmt wieder das
stumpfe Grau eines abgeschalteten Bildschirms an. Gianni ist in Rom,
Annette in Paris, Markus in Düsseldorf und Eva in Wrodaw. Es
gibt noch weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die, über
das halbe alte Europa verteilt, von ihren digitalen Zellen aus
operieren. Solange sie nicht versuchen, vor Ort direkten Kontakt
miteinander aufzunehmen, und in ihren jeweiligen Büros bleiben,
dürfen sie einander ruhig anbrüllen. Ihre vertraulichen
Mitteilungen und dreckigen Witze durchlaufen viele anonyme Stationen
der Kommunikation, man kann sie nicht zurückverfolgen.
Derzeit versucht Gianni, die Regionalpolitik hinter sich zu
lassen, um künftig auf der Ebene europäischer Staatspolitik
zu agieren. Die Aufgabe seines Wahlkampfteams besteht darin, ihm
einen Sitz in der Europäischen Kommission, der Kommission der
Föderation, zu verschaffen. Er möchte dort das Ressort
übernehmen, das für Entwicklung und Einsatz von
Intelligenzen zuständig ist. Darüber hinaus arbeitet sein
Team daran, posthumane Aktivitäten in zeitlicher wie
räumlicher Hinsicht voranzutreiben. Deshalb ist es für
gewisse Leute überaus interessant, wenn ein Angehöriger des
engsten Kreises, eine Schlüsselfigur – derjenige in Giannis
Team, der weit in die Zukunft denkt und Probleme löst –
plötzlich aus dem Spiel ausscheidet. Die Wände haben Ohren,
und diese Ohren neigen dazu, empfangene Informationen an Gehirne
weiterzuleiten – es müssen nicht unbedingt menschliche
sein.
Annette ist besorgter, als sie Gianni gegenüber hat
durchblicken lassen. So lange abzutauchen sieht Manfred gar nicht
ähnlich. Und noch seltsamer ist, dass seine elektronische
Empfangsdame ihr gegenüber mauert. Immerhin ist Annettes Wohnung
in den letzten zwei Jahren Manfreds Zuhause gewesen, sofern er
überhaupt irgendetwas als sein »Zuhause« betrachtet.
Das stinkt zum Himmel. Als er gestern Abend abgeschwirrt ist, hat er
angekündigt, er werde am nächsten Tag zurück sein, und
jetzt meldet er sich nicht. Kann es sein, dass seine Ex
dahintersteckt?, fragt sie sich trotz Giannis Hinweis
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