Accra: Roman (German Edition)
Accra, dachte Dawson. Nur in Accra.
Mitten im Hüttengewirr von Agbogbloshie bewegte Sly sich mit einer Leichtigkeit, als würde er über den felsigen Boden schweben. Er hüpfte über Abwasserrinnen, die zum Überlaufen mit Müll in einer gräulich schwarzen Schlacke gefüllt waren, duckte sich unter Wäscheleinen hindurch, die kreuz und quer zwischen den Hütten gespannt waren, und bog mehrere Male abrupt ab. Überall standen wackelige Behausungen aus altem Holz, was förmlich nach einem Flächenbrand schrie.
Hier lief das Leben mit der gleichen Zwangsläufigkeit ab wie überall sonst. Leute arbeiteten und trieben Handel, Kinder spielten, Frauen ließen sich ihre Nägel machen, Männer ihre Haare schneiden, und ein paar Jungen mit freiem Oberkörper sahen sich ein Fußballspiel auf einem Gemeinschaftsfernseher an.
An einigen Stellen roch Dawson Marihuana oder »Wee«, wie es allgemein genannt wurde. Der Duft wanderte von seinen Nasenschleimhäuten geradewegs zum Belohnungszentrum im Gehirn, und seine Reaktion darauf verriet ihm, dass er sein Laster noch nicht ganz überwunden hatte. Fünf Monate clean. Einen Tag nach dem anderen.
Leute fragten Sly, wer sein Begleiter war. Er antwortete jedes Mal gleich: »Das ist Darko, mein Freund.« So war es am besten, denn die Menschen hier hatten nicht viel für Polizisten übrig. Und sollten beiläufige Fragen nach dem Toten in der Lagune zu wenigen oder unbrauchbaren Informationen führen, wäre das immer noch mehr, als Dawson erhalten würde, wenn er sich als Detective zu erkennen gab.
Sie kamen an einer kleinen Moschee vorbei, einem der wenigen gemauerten Bauten in Agbogbloshie. Drinnen kniete ein Mann auf einem Gebetsteppich.
»Da ist mein Haus«, sagte Sly, wurde langsamer und zeigte nach vorn. »Wo die Jungen spielen.«
Vier Teenager schossen und köpften sich einen Fußball zu, ohne ihn zwischendurch auf dem Boden aufkommen zu lassen. Vor einer fensterlosen, winzigen Holzhütte, die auf kurzen Stelzen stand, saß ein Mann.
»Ist das dein Onkel?«, fragte Dawson.
»Ja.«
Slys Onkel sah sie, rührte sich jedoch zunächst nicht. Als sie näher gekommen waren, richtete er sich schließlich auf und betrachtete die beiden erst verwundert, dann misstrauisch.
»Guten Morgen?« Er war mittelgroß, schielte ein wenig, hatte graue Schläfen und schütteres Haar. Stammeszeichen schmückten seine Wangen.
»Guten Morgen, Sir. Ich bin Darko Dawson.«
»Ich heiße Gamel.« Er hatte eine Stimme wie reibende Kiesel.
Hinter ihm stand die Hüttentür weit offen, und Dawson sah, dass die dünne Schaumstoffmatte auf dem Boden löchrig war wie Schweizer Käse.
»Hat er was angestellt?«, fragte Gamel und wies auf Sly.
»Nein. Er hat nur heute Morgen bei der Polizei gemeldet, dass er einen Toten gefunden hat.«
»Einen Toten?«
Plötzlich fing Gamel an, in Hausa mit Sly zu schimpfen, und wollte sich auf den Jungen stürzen, wovon ihn Dawson jedoch abhielt.
»Ganz ruhig, mein Freund«, sagte Dawson. »Kommen Sie mit, und lassen Sie uns reden. Sly, warte hier auf uns.«
Dawson und Gamel gingen in den engen Gang zwischen seiner und der nächsten Hütte, wo es nach Urin stank. Die beiden Männer waren keine zwei Meter voneinander entfernt.
»Was haben Sie für ein Problem mit Sly?«, fragte Dawson.
»Ich sag ihm, redest du mit der Polizei, bringst du uns nichts wie Ärger. Aber der Junge hört nich.«
»Er hat sich richtig verhalten«, sagte Dawson.
Gamel schien zu dämmern, wen er vor sich hatte. »Sind Sie Polizist?«
»Ja.«
Das Weiße in Gamels Augen blitzte auf wie bei einem scheuenden Pferd, und er trat einen Schritt zurück.
»Nur die Ruhe«, sagte Dawson. »Ich werfe Ihnen nichts vor.«
Gamel, der kurz die Luft angehalten hatte, atmete weiter.
»Geht Sly zur Schule?«, fragte Dawson.
Gamel zögerte. »Nein, Sir.«
»Warum nicht?«
»Ich sag ihm, geh in die Schule, Sir. Er mag nich.«
»Wie alt sind Sie, Gamel?«
»Zweiundvierzig, Sir.«
»Und wie alt ist Sly?«
»Neun.«
»Wer sollte Ihrer Meinung nach dafür sorgen, dass er in die Schule geht?«
Gamel wandte sich verstockt ab.
»Ist er überhaupt gemeldet?«, fragte Dawson.
»Nein, Sir.«
»Okay, hören Sie mir zu. Sly muss zur Schule gehen. Meine Frau ist Lehrerin. Vielleicht kann sie Ihnen helfen, Sly in einer staatlichen Schule anzumelden. Wir kommen in den nächsten Tagen zu Ihnen, dann sehen wir weiter.«
Gamel nickte. »Ja, Sir. Danke.«
»Noch eines«, fügte Dawson hinzu. Er trat näher
Weitere Kostenlose Bücher