Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
[...] Ich war nicht die Einzige, die so lebte. In einer Wohnung, in der ich einmal eine Nacht verbracht habe, lehnte im Schlafzimmer gegenüber vom Bett ein Mountainbike an der Wand, sodass ich den Eindruck bekommen konnte, ich säße in einem Straßencafe. Es gab keine Vorhänge, und stattdessen waren Bettlaken über den Fensterrahmen geworfen worden. Dort, wo andere im Bad einen Spiegel anbrachten, ragten Kabel aus einem Loch in den Kacheln.«
Nun muss ein minimalistischer Hausstand ja nicht automatisch der Ausweis einer inneren Leere und Haltlosigkeit sein. Auch ich habe in meinen Studienjahren aus zwei Koffern gelebt, zeitweise sogar auf einer Luftmatratze geschlafen. Manche meiner Freunde leben immer noch mit so leichtem Gepäck, dass sie morgen problemlos nach Amerika auswandern könnten. Andererseits habe ich höchstes Verständnis, wenn einem dieses Leben aus der Kiste irgendwann auf den Nerv geht. Ich selbst habe im vergangenen Jahr zum ersten Mal eine Schrankwand gekauft.
Stutzig wurde ich jedoch, als ich las, wovon die junge Wahlberlinerin in ihrer kargen Wohnung träumte: »Ich sehnte mich nach alten Formen, nach richtigen Möbeln, nach schweren Lampenschirmen, nach Bilderrahmen, die an die Wand gedübelt werden, nach Ordnung und Vorhersehbarkeit, nach Verlässlichkeit.«
Vom Biedermeierlichen einer solchen Einrichtungssehnsucht ganz abgesehen – werden hier nicht Ursache und Wirkung verkehrt? Meine Schrankwand habe ich mir zu einem Zeitpunkt gekauft, an dem ich das Gefühl hatte: Ja, ich bin in meinem Leben in einer Weise angekommen, dass ich mir nicht mehr alle Flucht- und Hintertüren offen halten muss. Aber nie hätte ich von einer Schrankwand erhofft, dass sie Ruhe und Stabilität in mein Leben bringen würde.
Den Verdacht, dass die »schweren Lampenschirme« im Grunde nur ein Platzhalter für den Mann sind, der endlich »Ordnung, Vorhersehbarkeit, Verlässlichkeit« in ihr Leben bringen soll, formuliert Elisabeth Raether selbst: »Ich hätte es nie zugegeben, aber ich habe geglaubt, die Liebe würde mich von jeder Sorge befreien und jeden emotionalen Konflikt für mich lösen.«
Da begegnet es uns also wieder, das »Großstadt-Aschenputtel«, das auf hohen Absätzen scheinbar souverän durchs Nachtleben stöckelt – und sich in Wahrheit doch nach der großen Liebe sehnt, die seinem Leben endlich Halt und Verbindlichkeit schenkt.
Nun ist es auch in früheren Zeiten nicht einfach gewesen, einen »Märchenprinzen« zu finden. Doch heute scheint es so schwer geworden zu sein wie noch nie.
»Sag mir, wo die Prinzen sind...«
Nur wenige Jahre nachdem Colette Dawling ihren Cinderella-Komplex veröffentlicht hatte, diagnostizierte der amerikanische Familientherapeut Dan Kiley bei den Männern der westlichen Wohlstandsgesellschaften ein entsprechendes »Peter-Pan-Syndrom«: die Weigerung, erwachsen zu werden und im Leben Verantwortung zu übernehmen.
Dass auch Kileys Beobachtungen zwanzig Jahre später nichts von ihrer Aktualität verloren haben, wird klar, wenn man das Buch Schöne junge Welt von Claudius Seidl liest. Darin beschreibt der Journalist, Jahrgang 1959, die Männer seiner Generation als verschärfte Peter Pans, die nicht im Traum daran denken, in die Rolle des gesetzten Familienvaters zu schlüpfen, sondern trotz beginnender Geheimratsecken ihre Anzüge immer noch ohne Krawatten, ihre Schuhe immer noch ohne Socken tragen und nächtelang auf angesagten Partys mit »Frauen, wunderbaren Frauen« abhängen. Das Verbindlichste, das eine Frau auf der Suche nach einem stabileren Leben – zu dem möglicherweise auch Kinder gehören sollen – diesem Typus Mann entlocken kann, ist ein »vielleicht später«.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sitzen sie immer noch in ihren kargen Wohnungen und warten, verschieben, warten... So enden die modernen Großstadtmärchen, in denen Aschenputtel auf Peter Pan trifft.
Und als sei die Lage damit nicht verfahren genug: Selbst wenn Aschenputtel ausnahmsweise einen Prinzen trifft, muss es feststellen, dass es dieses Leben auch nicht wirklich glücklich macht.
Während eines längeren Arbeitsaufenthaltes in Paris lernt Elisabeth Raether einen dreißig Jahre älteren Mann kennen. Der erfolgreiche Anwalt hat sich zwar gerade von Frau und Kind getrennt, dafür weiß er, was sich einer jungen Geliebten gegenüber gehört, nämlich sie immer dann anzurufen, wenn er versprochen hat anzurufen, ihr eine Kreditkarte mit hohem Verfügungsrahmen
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