Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
teils krasse – Positionswechsel vollzogen. Aber bei ihnen erscheinen diese Wechsel als Ausdruck lebendigen Wandels, nicht als Ausdruck einer Verunsicherung ohne Gravitationspunkt.
Natürlich wäre es ungerecht, in diesem Zusammenhang nicht auch auf die – im Vergleich zur frühen Bundesrepublik – radikal veränderten Bedingungen hinzuweisen, unter denen ein Intellektueller heute seinen öffentlichen Einfluss erringen muss. Der »Strukturwandel der Öffentlichkeit« ist noch rascher und dramatischer erfolgt, als Jürgen Habermas ihn sich 1961 vorstellte. Böll, Bachmann und all die anderen aus der Gruppe 47 hatten keine »User«, sondern Leser. Wobei die für den öffentlichen Intellektuellen eigentlich heikle Dimension des Internets weniger darin liegt, dass neuerdings jeder einen Blog einrichten und somit als Intellektueller von eigenen Gnaden auftreten kann. Stammtische gab es schon immer – das Internet hat lediglich ihren Wirkradius vervielfacht. Deutlich dramatischer wird die Autorität des Intellektuellen untergraben durch die Vermischung der professionellen Sphäre mit der Laiensphäre, wie sie derzeit im Internet rasant fortschreitet. Es will mir nicht einleuchten, warum jede Online-Zeitung, jedes Nachrichtenportal und inzwischen auch die ersten Verlage im Netz ihre »User« dauerauffordern müssen: »Machen Sie mit! Sagen Sie uns Ihre Meinung! Werden Sie Kritiker!« Eine Bäckerei oder Fluggesellschaft sagt ja auch nicht zu ihren Kunden bzw. Passagieren: »Machen Sie mit! Backen Sie Brötchen! Navigieren Sie ein bisschen!«
Der Schriftsteller Michal Kleeberg seufzte vor einigen Jahren in der Literarischen Welt : »Was sind wir anderes als Citoyens mit ihrer persönlichen Meinung? Unterscheidet uns irgendetwas von einem gebildeten Arzt, Anwalt oder Unternehmer?«
Diese Haltung mag eine vorbildlich basisdemokratische sein. Gleichzeitig zeugt sie von intellektuellem Defätismus. Zeitgeschehnisse treffend zu analysieren und vor einem größeren Hintergrund zu interpretieren, und dies alles auch noch in sprachlich adäquater Form zu tun, ist keine Feierabendbeschäftigung, sondern eine echte Profession.
Die Gegenfigur zum »User«, für den das Wort des Intellektuellen kein Gewicht mehr hat, ist der Experte. Auf ihn hört der »User« schon eher, denn der Experte hat im Gegensatz zu ihm Kernphysik, Neuropsychologie oder wenigstens Ethnologie studiert und kann deshalb erklären, warum der gigantische Teilchenbeschleuniger in Genf keine schwarzen Löcher produzieren wird, die so groß sind, dass die Schweiz darin verschwinden könnte, warum selbst bei den Meerkatzen der männliche Nachwuchs lieber nach Baggern als nach Puppen greift, und warum sich die muslimisch-arabische Welt mit der Demokratie so schwertut. Keine Frage: Eine ausdifferenzierte, technisch hochgerüstete Gesellschaft wie die unsrige braucht Experten im öffentlichen Raum. Nur sollte sie im Blick behalten, dass Experten nicht alles sind. Der Experte verhält sich zum Intellektuellen wie der Hosenverkäufer zum Couturier.
Der dritte und vermutlich mächtigste Feind des Intellektuellen in Zeiten der Mediendemokratie ist der »Prominente«, der sich – aus welchen Gründen auch immer – plötzlich zum Intellektuellen berufen fühlt und seine Prominenz als Trägerrakete einsetzt, um die breite Öffentlichkeit mit seinen Thesen zu bombardieren. Diesen bildschirmerprobten Simplifizierern von Peter Hahne bis Eva Herman mangelt es nicht an jener Passion im Auftritt, die den Dichtern und Denkern der jüngeren Generation so häufig abgeht. Das Problem mit ihnen ist, dass sie allenfalls imstande sind, den Problemen auf Bauchnabelhöhe zu begegnen.
2006 verlangte Jürgen Habermas in einer Rede über die Rolle des Intellektuellen, dass dieser sich erst eine »Reputation innerhalb seiner eigenen Zunft« erworben haben müsse, »bevor er von seinem Wissen und seiner Reputation einen öffentlichen Gebrauch macht.«
So einleuchtend diese Forderung nach »Reputation vor Prominenz« auf den ersten Blick ist, so realitätsfern ist sie auf den zweiten. Denn wo gibt es heute noch die klassischen Schutzräume, in denen ein junger, Neugier weckender Intellektueller erst einmal in Ruhe reifen könnte, bevor das Fernsehen an seiner Tür klingelt? Gewiss versteht Habermas die Universitäten als solche Trutzburgen, die hoch über dem medial aufgepeitschten Meer thronen und ihre Zöglinge vor dem Gröbsten bewahren. Die Gefahr, als Schriftsteller, Publizist oder
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