Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
und findet sich in jenem Aufsatz von 1784, in dem der Königsberger die Frage »Was ist Aufklärung?« mit der prägnanten Formel beantwortet: Auftlärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit .
Gut zweihundert Jahre später ist die Formel zu lexikalischem Schulwissen erkaltet. Bekam der gebildete Europäer des späten 18. Jahrhunderts leuchtende Augen, wenn er das Wort »Lichter« hörte, da er an Geistesgrößen wie Voltaire, Hume, Herder oder eben Kant dachte – bekommt er im frühen 21. Jahrhundert höchstens einen Schrecken, weil er sich fragt, ob er daheim auch wirklich alle Kronleuchter auf Energiesparleuchten umgerüstet hat. Das erste Gebot der Öko-Orthodoxie, kein Licht unnötig brennen zu lassen, beginnt, auf die Geisteshaltung abzufärben.
Sapere aude !, hieß der Wahlspruch, mit dem sich die Aufklärer dem damaligen Obrigkeitsstaat und Obrigkeitsdenken entgegenstemmten. Das Fußbodenmosaik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert warnt: Sapere cave ! Hüte dich, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen...
Die neuen Vormünder, die schäferhundstolz verkünden: »Hier wache ich!«, sitzen nicht länger in Rom und Potsdam, sondern in Brüssel und Berlin. Ihr fürsorgliches Regiment kommt ganz ohne Hinweis auf Gott oder König aus. Rauchen ist tödlich, so lassen sie die Zigarettenschachtel zu uns sprechen. Fünfmal täglich Obst und Gemüse , predigt es von der Plakatwand herab. Deutschland bewegt sich .
In der Tat: Deutschland bewegt sich. Und zwar in Richtung Kindergarten. Noch sind wir nicht so weit, dass wir uns von Mutti Staat das Pausenbrot schmieren lassen. Noch darf der dicke Tom weiter Butterstulle mampfen und die dürre Tanja an ihrem Apfelbutzen nagen. Noch darf Jutta jeden Abend zwei Flaschen Rotwein trinken und Jörn an seinem Joint ziehen. Doch der selbstverschuldete Wiedereintritt des Menschen in die Unmündigkeit hat begonnen.
Die Kraft, die die Schäfchen den Hirten in die Arme treibt, heißt – wie schon zu Kants Zeiten – Angst. Heute ist sie jedoch kein Privileg des »schönen Geschlechts« mehr, möchte man ergänzen. Und sie kommt noch jämmerlicher daher als in einem Jahrhundert, in dem das kirchlich verheißene Jenseits immerhin noch so viel Strahlkraft besaß, dass es den schlichten Mann der menschlichen Zentralangst, dem Faktum seiner Vergänglichkeit, halbwegs gefasst ins Auge sehen ließ. In unserer technologisch säkularisierten Welt hingegen erscheint der Gedanke an die eigene Hinfällig- und Sterblichkeit als Skandal, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Es ist kein Zufall, dass die aktuellen Gängelungen durchweg im Namen der »Gesundheit« erlassen – und ertragen – werden. Jedes Mal, wenn ich die nicht rauchenden, abstinenten, sich makrobiotisch ernährenden und Sport treibenden Zeitgenossen betrachte, die das Ideal dieser nachchristlichen Unsterblichkeitsakrobatik verkörpern, muss ich an den Satz denken, den Friedrich der Große seinen fliehenden Soldaten in der Schlacht von Kolin nachgerufen haben soll: »Kerls! Wollt ihr denn ewig leben?«
Das Argument, sich mit den Maßnahmen zur Verbesserung der Volksgesundheit ja gar nicht in das Privatleben des Einzelnen einzumischen, sondern lediglich Sorge zu tragen, dass dieser die Gemeinschaft nicht durch »unnötige Krankheiten« belaste, ist ein Scheinargument. Denn kaum etwas verursacht den Krankenkassen mehr Kosten als die steigende Lebenserwartung. Da können sich die idealgewichtigen Asketen noch so abmühen: Auch sie werden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mit 89 einfach umfallen – sondern die Jahre zuvor mit unzähligen Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten verbracht haben.
Das Einzige, worin der neue Paternalismus seine Schützlinge bestärkt, ist in ihrem Windmühlenkampf gegen die Endlichkeit. Ihre Befähigung, sich als selbstständig denkende, eigenverantwortlich handelnde Personen, kurz: als politische Subjekte, zu verstehen, schwächt er. Bevormundende Fürsorglichkeit ist die Haltung, mit der ich denjenigen begegne, die ich für nicht zurechnungsfähig halte. Menschliche Wesen, die unter einem »Mangel an Verstand« leiden, wie Kant gesagt hätte. Oder Wesen, die noch nicht imstande sind, sich ihres Verstandes zu bedienen: Kinder. Indem sich die europäischen Regierungen gegenüber den Bürgern immer paternalistischer verhalten, verstärken sie also die Infantilisierungstendenzen, die in diesen Gesellschaften seit dem Aufkommen der Spaßkultur ohnehin
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