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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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den mahnenden Gott geben soll – und schiebt sich die Kopfhörer über die Ohren.
    Sartre ließ eine seiner Theaterfiguren sagen, die Hölle, das seien die anderen – die anderen, die sich immer schon ein Bild von mir gemacht haben, mich mit ihrem Urteil mir selbst entfremden wollen. Ein gutes halbes Jahrhundert später stellen wir fest, dass es uns dem Himmel nicht näher bringt, wenn wir darauf pfeifen, was der andere über uns denkt. Im Gegenteil schaffen wir uns damit nur eine andere Hölle: Die Verwahrlosung des öffentlichen Raums.
    Der Schutz der Privatsphäre gehört zum Kernbestand des westlichen Freiheitsverständnisses. Es wäre an der Zeit, ein ebensolches Gespür dafür zu entwickeln, dass auch die öffentliche Sphäre Schutz braucht. Individuelle Freiheit entsteht nicht, indem die Grenzen zwischen Privat und ob fentlich hemmungslos niedergetrampelt werden, sondern in der Spannung zwischen beidem. Ein gewisses Niveau erreicht nur derjenige, der sich dem mühsamen Geschäft unterwirft, Selbstbild und Fremdbild eines Tages vielleicht doch noch in Einklang zu bringen. Wer die Normen, die unsere abendländische Kultur geprägt haben, nicht vollständig vergessen hat, möge sich bitte weiter schämen. Vor den anderen. Und für die anderen, wenn diese es selbst nicht mehr tun.

Deutschland, keine Denker
     
    Thea Dorn vermisst den öffentlichen Intellektuellen unter sechzig.
     
    Seit Jahren offenbaren uns die Propheten der demografischen Apokalypse, wie Deutschland erst vergreisen, dann verelenden und schließlich untergehen wird, während die Ökokalyptiker ihr Publikum damit unterhalten, dass sie Schleswig-Holstein wahlweise versteppen oder in der Nordsee versinken lassen. Doch während wir bestaunen, wie Alterspyramiden Kopf stehen und computeranimierte Gnuherden durch die Stadt Kiel ziehen, ist eine andere Überalterung, Verödung längst Wirklichkeit geworden: In diesem Land gibt es keinen öffentlichkeitsrelevanten Intellektuellen unter sechzig mehr. Und gäbe es Peter Sloterdijk und Botho Strauß nicht, und würden Elfriede Jelinek und Peter Handke nicht auch irgendwie für Deutsche gehalten, gäbe es sogar keinen unter siebzig.
    Diejenigen, die Intellektuelle schon immer für eitles Geschmeiß gehalten haben, mögen diese Entwicklung begrüßen. Denjenigen, der davon überzeugt ist, dass Intellektuelle das Hirn und Rückenmark einer Demokratie sind, muss diese Entwicklung beunruhigen.
    Seit 2004 treffe ich alle zwei Wochen in meiner Büchersendung Schriftsteller, Publizisten, Historiker, Soziologen, Philosophen und andere schreibende Zeitgenossen, um mit ihnen über ihre neuesten Veröffentlichungen zu diskutieren. Und selbstverständlich habe ich in dieser Zeit viele kluge und inspirierende Gespräche auch mit Dichterinnen und Denkern diesseits der siebzig geführt. Doch jedes der Gespräche, das ich mit Martin Walser, Joachim Fest, Hans Magnus Enzensberger, Ralf Dahrendorf, Peter Härtling oder Robert Spaemann geführt habe, hat mich stärker berührt und in einer anderen Weise zum Nachdenken gebracht. Was haben diese Männer, was die Jüngeren nicht haben?
    Die schlichte Antwort, die Fritz J. Raddatz, Jahrgang 1931, vor einigen Jahren gegeben hat, als er die gesamte jüngere deutsche Literatur als »Yoghurt-Literatur« abwatschte, die ihr Verfallsdatum bereits auf dem Buchdeckel eingeprägt habe, lautet: Die Nachgeborenen haben in ihrem Leben keinen »existenziellen Riss« erfahren, sie haben keine »brennenden Menschen« gesehen. Die historische Richtigkeit dieser Aussage lässt sich nicht bestreiten. Aber gibt es wirklich ein psychologisches, ästhetisches oder gar Naturgesetz, das besagt: Nur derjenige, dem die Geschichte ihre Bombensplitter um die Ohren gehauen hat, kann relevante Romane oder eindringliche Analysen schreiben? Musste sich Friedrich Nietzsche aus einem verschütteten Keller befreien, um Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik zu verfassen? Hat Thomas Mann im Schützengraben gelegen, bevor er Die Buddenbrooks schrieb? Die drei Monate, die er im Münchner Leibregiment zugebracht hat, dürften ihn mit weniger Existenziellem konfrontiert haben, als es jemand erlebt, der heute Zivildienst im Altersheim leistet.
    Deutlich näher zum Kern des Problems dringt der Schriftsteller Hans Christoph Buch, Jahrgang 1944, vor, wenn er von einem Schriftstellertreffen zum Thema »11. September« aus dem Jahre 2002 berichtet, bei dem er versuchte, die Erfahrungen zu vermitteln, die er als

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