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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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gegen die Scham weit heftiger. Niemand soll ihm vorschreiben, was das »Kluge«, »Edle«, »Schickliche« oder »Schöne« sei. Der heutige Mensch will seinen Hund mitten auf dem Gehweg Gassi führen dürfen, seinen Porsche stellt er bevorzugt in fremden Hauseinfahrten ab, im Sommer trägt er seine Wampe textilbefreit durch die Stadt, im Konzertsaal hustet er hingebungsvoll, Zoten erzählt er am Nachbartisch prinzipiell in Überlautstärke. Und wehe, einer schaut ihn schief an. Erlaubt ist, was gefällt. Und zwar nicht den anderen, sondern einem jeden selbst.
    Sieht man sich im Trash─TV um oder im Internet mit seinen Voyeurs- und Exhibitionistenplattformen, kurz »Social Networks« genannt, entsteht auf den ersten Blick der Eindruck, der postmoderne Mensch habe die Scham endgültig verloren. Kein Witz ist zu abgeschmackt, kein Schnappschuss zu peinlich, kein »Schicksal« oder Talentchen zu armselig, um nicht als Anlass für den großen Auf─ tritt herhalten zu sollen.
    Nun ist die Rampensau beileibe keine Erfindung des Medienzeitalters. Nur kostete es die Rampensau früher weit größere Anstrengungen, aus den Ställen auszubrechen, in welche die Gesellschaft sie sperren wollte, die Ausbruchsversuche wurden zusätzlich gebremst von dem Wissen, dass Schamlosigkeit allein noch keinen Platz im Rampenlicht sichern würde. Irgendein ernsthaftes Können musste sich schon dazugesellen. Die Ahnung davon schwingt in travestierter Form mit, wenn Fernsehsender behaupten, auf der Suche nach dem nächsten »Supermodel« oder »Supertalent« zu sein. In Wahrheit wird lediglich die nächste Superrampensau gesucht, die sich möglichst schamfrei durchs virtuelle Dorf jagen lässt.
    Glaubt man der jüdisch-christlichen Überlieferung, befiel den Menschen zum ersten Mal die Scham, nachdem er in den sauren Apfel der Erkenntnis gebissen hatte. Adam und Eva schämten sich vor Gott, weil ihnen bewusst wurde, dass sie nackt waren. Auch wenn es die Schöpfungsgeschichte nicht ausdrücklich erzählt, darf man annehmen, dass mit der plötzlich und schamvoll empfundenen Nacktheit mehr gemeint war als die körperliche Blöße. Der Mensch, der sich selbst erkennt, erkennt, dass er dem Vergleich mit Gott in keiner Weise standhält. Danach wäre Scham mehr als Verklemmtheit. Sie wäre ein Indiz für die schmerzliche Erkenntnis menschlichen Ungenügens – für realistische Selbsteinschätzung und Klugheit.
    Barrikadenstürmer aller Jahrhunderte waren bemüht, den Menschen von seiner Urscham zu befreien – in der Hoffnung, dass die Überwindung der Scham die Rückkehr zu paradiesischen Zuständen bedeuten möge. Am deutlichsten drückt sich diese Sehnsucht in der »sexuellen Befreiung« aus.
    »Früher dachte ich, ich bin pervers. Mittlerweile akzeptiere ich meine Fantasien.« So oder ähnlich klingt es, wenn der Mensch die sittlichen Fesseln abstreift, um andere Fesselspiele stolz zu präsentieren. Aber müssen wir uns den »Zeigefreudigen« tatsächlich als freudigen Menschen vorstellen?
    Im Auge des Sexratgebers kann es so erscheinen. Im Auge des Internet-Users und Fernsehzuschauers sieht es komplizierter aus: Ihm ist der »Zeigefreudige« Vorbild und Lachnummer in einem. Einerseits träumt er selbst davon, so schambefreit zu agieren wie die Artgenossen auf den diversen Bildschirmen. Andererseits kennt er kaum ein größeres Vergnügen, als sich über ebenjene lustig zu machen. Der wachsenden Schamlosigkeit der medialen Selbstentblößer entspricht die wachsende Häme des Publikums. Gelästert, abgeurteilt, bescbämt wird immer noch. Nur wurde das Niveau so weit gesenkt, dass sich einer restlos zum Tölpel machen muss, um ausgebuht zu werden. Noch nie wurde es dem Durchschnittsmenschen leichter gemacht, sich auf seinem heimischen Sofa überlegen zu fühlen.
    Ermöglicht und verstärkt wird diese Entwicklung durch die Grenzverwischung zwischen Privatem und Öffentlichem. Nachdem der Mensch den Glauben verloren hatte, Gott würde ihn Tag für Tag vierundzwanzig Stunden beobachten, wurde die Intimsphäre zu dem Bereich, in dem ein jeder sich mit all seinen Schwächen und Unzulänglichkeiten ungestraft austoben durfte. Nur in der Öffentlichkeit versuchte er, das Gesicht zu wahren. Je permissiver sich die Öffentlichkeit jedoch zeigt, desto hemmungsloser wird jede private Peinlichkeit vom medizinischen Bulletin über den Ehekrach bis zur Planung der nächsten Liebesnacht am Mobiltelefon verhandelt. Der Mitreisende überlegt kurz, ob er jetzt

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