Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
Augenzeuge des Bombenattentats auf die US-Botschaft in Nairobi gemacht hatte: »Die neunmalklugen Autoren der jüngeren Generation fanden mein Beharren auf Augenzeugenschaft hoffnungslos naiv─für sie war alles nur eine Frage derTextstruktur.«
Das Defizit der Jüngeren ist nicht, dass die Welt, in der sie aufgewachsen sind und jetzt leben, so harmlos wäre, dass nichts Erschütterndes mehr geschieht. Das Problem ist, dass sie sich von nichts erschüttern lassen.
Versucht man, diese distanzierte Coolness freundlich zu interpretieren, könnte man sie als Abgrenzung gegen den dauererregten Ton der Intellektuellen von ’68 ff. deuten. Doch wurde dann nicht das Kind mit dem Dutschke ausgekippt? Wäre es nicht produktiver, sich von den einstigen »Sinnproduzenten« abzugrenzen, indem man nach anderen, im intellektuellen Gedächtnis der Bundesrepublik leider verschütteten Traditionslinien sucht, wie man sie etwa bei Friedrich Sieburg und Dolf Sternberger findet – beide Zeugen dafür, dass ein unaufgeregtes Denken kein leidenschaftsloses zu sein braucht -, anstatt den Erregungsregler zwar hinunterzudrehen, aber dennoch »irgendwie links« zu bleiben?
Kurt Sontheimer wünschte sich 1976, »dass die gute Vision von der besseren, ständig zu erneuernden Gesellschaft unter uns nicht völlig kraftlos wird, dass wir sie als Ansporn nehmen für ein Handeln, welches das schlechte Bestehende nicht von außerhalb, von den Höhen der Theorie herab, sondern von innen heraus, das heißt in geduldigem Eingehen auf die Wirklichkeit, überwindet.« Sein Wunsch ist ein frommer geblieben. Den Vorwurf, den Jürgen Habermas bereits 1969 den dogmatisch-hysterisch gewordenen Linksintellektuellen machte, dass sie sich in der Rolle der »zugereisten Harlekins am Hof der Scheinrevolutionäre« gefielen, kann man den jüngeren Intellektuellen zwar nicht mehr machen. Sein zweiter Vorwurf, dass sie sich »gegen Erfahrung immunisiert« hätten, trifft sie jedoch im selben Maße wie ihre Vorgänger. Nur dass die Immunisierung heute keiner maoistisch-trotzkistisch-leninistischen Verblendung entspringt, sondern einer Lyotard-Baudrillard-Derrida’schen.
Die Postmoderne hat in der Geisteshaltung der jüngeren Intellektuellen größere Verwüstungen angerichtet als »Kyrill« im Hochsauerland. Denn wie soll ich auf Ereignisse empathisch reagieren, wenn ich mir von den Dekonstruktivisten habe einflüstern lassen, dass alles nur »Bild«, »Oberfläche«, »Text« sei? Wie soll ich mit Verve eine Position verteidigen, wenn ich mir von den Poststrukturalisten habe weismachen lassen, dass es nicht um Wahrheit gehe, sondern lediglich darum, die »Sprecherposition« einzunehmen ? Wie soll ich eine Persönlichkeit entwickeln, wenn mir der Begriff »Bei-sich-Sein« nur ein mattes Lächeln entlockt, weil ich längst weiß, dass hinter jeder Maske nur die nächste Maske schlummert? Man muss nicht zwangsläufig Schelling gelesen haben, um zu begreifen, dass »das Gefühl der Begeisterung im eigentlichen Sinn das wirksame Prinzip jeder erzeugenden und bildenden Kunst und Wissenschaft« ist.
Und ist es nicht gerade das, was uns an »den Alten« beeindruckt: Dass sie ausgeprägte Charaktere sind, leidenschaftliche »Ichs«, während die Vertreter der Generation Golf/Ally/Doof mal selbstgefällig, mal selbstmitleidig, mal selbstanklagend feststellen, dass sie auch mit vierzig immer noch »null Plan« haben, wo es im Leben langgehen könnte? Dass unsere Welt unübersichtlicher geworden ist, sollte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Eigentlich war genügend Zeit, neue Pfade der Selbstaufklärung – jenseits von Jakobsweg und Yoga-Studio – zu finden.
Es wäre ein weiteres postmodernes Missverständnis zu glauben, dass es sich bei dieser Selbstaufklärung um eine Frage der Wellness handelt. Selbsterkenntnis ist die Grundlage für Welterkenntnis. Nur wer – wenigstens einigermaßen – weiß, wer er ist, kann eine Vorstellung davon entwickeln, in was für einer Gesellschaft er leben will. Die Gesellschaftskritik, die ein Kind ohne Eigenschaften zu üben imstande ist, erschöpft sich in Tagträumerei oder Nörgelei. Und so können die biografisch Ratlosen im Diskurs allenfalls die Rolle der mal besser, mal schlechter gelaunten, aber letztlich immer unbeteiligten Beobachter einnehmen. Wer selbst nicht so recht glaubt, was er sagt, weil am Schluss ja doch alles relativ ist, wird nie markant Stellung beziehen. »Die Alten« haben im Laufe der Jahrzehnte –
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