Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
sei.
Diese Meldung erscheint Ihnen bizarr? Sie ist erfunden.
Nicht erfunden hingegen ist die Meldung, dass der belgische Radstar Tom Boonen von der diesjährigen Tour de France ausgeladen wurde, weil er bei einer Trainingskontrolle positiv auf Kokain getestet worden war.
Sicher besteht ein Unterschied zwischen einem Maler, der zum weißen Pulver greift, um seinem von einer tödlichen Nervenkrankheit gezeichneten Körper Kreativität zu entlocken, und einem kraftstrotzenden Radrennfahrer, der hin und wieder eine Linie zieht, um letzte Reserven zu mobilisieren. Aber worin besteht der Unterschied genau? Warum fühlt sich der Sportzuschauer »betrogen«, wenn er erfährt, dass sein Idol gedopt hat, wohingegen kein halbwegs ernsthafter Kunstfreund dem Meister die Gunst entziehen würde, nur weil dieser kifft und kokst, um sich auf Touren zu halten? Warum haben sich die meisten Fans »enttäuscht« von Jan Ullrich abgewandt, als bekannt wurde, dass dieser Kunde des spanischen Eigenblutdoktors Eufemiano Fuentes gewesen ist, während Pete Dohertys Fangemeinde mit jeder Entziehungskur, die der Rocker abbricht, wächst?
Eine wesentliche Differenz liegt darin, dass der Künstler schon immer den Ruf des Lasterhaften genoss, wohingegen wir uns unsere Sportler so durch und durch rein wünschen, wie es die glatten Oberflächen der antiken Speer- und Diskuswerfer suggerieren. Dass diese Statuen einstwild bemalt waren, haben wir ebenso aus unserem kulturellen Gedächtnis verbannt wie das Wissen, das Philostratus und Galerius, zwei griechische Schriftsteller, aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert überliefern: Nach den Olympischen Spielen versuchten die Athleten, die Götter mithilfe kleiner Zeusstatuen zu besänftigen, weil sie wieder einmal die Spielregeln übertreten und ihre Körper mit unlauteren Mitteln aufgeputscht hatten. Dem durchschnittlichen Griechen, der gewohnt war, dass sein Obergott selbst in trügerische Gestalten schlüpft, um Nymphen zu verführen, dürfte diese Vorgehensweise nicht weiter anstößig erschienen sein.
Nun ist Berlin nicht Athen, und Deutschland bildet sich traditionell viel darauf ein, zu den weniger korrupten Ländern dieser Welt zu gehören. Zwar ist dieser Glaube durch Manager und Gewerkschaftler in den letzten Jahren erschüttert worden, dennoch sind wir weit davon entfernt, schlicht mit der Achsel zu zucken, wenn wir erfahren, dass sich ein Leistungsträger »unsauberer« Mittel bedient hat. Doch worin liegt genau der Betrug, den dopende Sportler begehen?
Glaubt man den Beichten geständiger »Dopingsünder«, besteht der erste Betrug im Selbstbetrug. Der ehemalige Radprofi Jörg Jaksche schildert seinen Weg an die Epo-Nadel so: »Ich wollte aufhören, ich fühlte mich unwohl. Die Spritzerei war mir einfach zu asozial. Aber mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt. Irgendwann kamen die ersten kleinen Erfolge, du wirst professioneller und siehst vieles nicht mehr. [...] Die Medizin gehört zu deinem Alltag.« Macht man sich darüber hinaus klar, dass beispielsweise das berüchtigte Eigenblutdoping vorzüglich damit zu rationalisieren ist, dass mit dem eigenen Blut ja letztlich nichts anderes geschehe als bei einem Höhentraining, wird begreiflich, warum so viele Radprofis noch immer beim Leben ihrer Kinder schwören, sie wüssten nicht einmal, wie man »Doping« buchstabiert.
Doch die Bereitschaft zur Selbsttäuschung liegt nicht nur aufseiten des Sportlers: Zwar runzelt der Zuschauer – durch die brutalstmögliche Dopingaufklärung in den Medien misstrauisch geworden – bei Unschuldsbeteuerungen neuerdings die Stirn, doch ist der Radler sympathisch genug und noch nicht wirklich überführt, vermeidet er die unangenehme Frage, wie es sein kann, dass sein »sauberer« Held konstant im vorderen Feld mitfährt – wenn alle anderen doch gedopt sind.
Die Selbsttäuschung reicht noch weiter: So nimmt die Öffentlichkeit ganze Sportarten, allen voran den »König« Fußball, vom Dopingverdacht aus. Zwar fragte sich der eine oder andere Sportfeuilletonist nach dem Europameisterschaftsspiel Niederlande-Russland 2008, ob es mit rechten Dingen zugegangen sein kann, als die Russen auch in der hundertzwanzigsten Minute noch wie die Strauße über den Platz fegten, während die Niederländer Matrosen beim Landgang nachts um halb eins glichen. Doch die allgemeine Sehnsucht, sich wenigstens den Fußball »rein« zu erhalten, ist offensichtlich so groß, dass selbst klare Hinweise auf
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