Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
fährt die gleichen Serpentinen nach Alpe d’Huez wie vorher. Nur scheinen sie mit etwas weniger Dornen gespickt.«
Wie keine zweite Sportart ist der Radsport der Sport des Übermenschen. Nirgends sonst ist Zarathustras Forderung »Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss« so deutlich Leitmotiv. Eine Bergetappe bei der Tour de France gleicht einer »peinlichen Strafe«: Im Mittelalter flocht man die Menschen aufs Rad. Heute genügt es, sie aufs Rad zu setzen. Wer die Schinderei siegreich übersteht, den umgibt die Aura des Erhabenen.
Jeder, der sich für den Radsport zu begeistern weiß, schwärmt von der Verschmelzung von Mensch und Material, die im Idealfall erreicht wird. Wieso also empört sich die Öffentlichkeit, wenn Sportler auch ihre Körper als Material betrachten, an dem sie genauso herumschrauben (lassen) wie an ihren Rennmaschinen?
Die Faszination für sportliche Ausnahmeleistungen hat etwas Paradoxes: Zwar will der Zuschauer den Sportler Übernatürliches vollbringen sehen. Dies aber soll auf natürlichem Wege geschehen. Und somit steht der »Dopingsünder« letztlich als Betrüger an der Schöpfung da. Dies erklärt auch, warum die Empörung so schnell religiös-fanatische Züge annimmt. Und warum sie in der Kunst weitestgehend fehlt: Der Gedanke des »Wunderkindes«, des Naturgenies, spielt allenfalls in der Musik noch eine Rolle. Ansonsten bewundern wir im Ausnahmekünstler ohnehin Zivilisatorisches – der Mensch schlüpft in die Rolle des Schöpfergottes. Deshalb fühlt sich auch kein Leser betrogen, wenn er erfährt, dass Edgar Allan Poe unter Opiumeinfluss geschrieben und Aldous Huxley auf Meskalin geschworen haben soll.
Doch der Mainstream rauscht derzeit zurück in Richtung Natur. Und so ist es kein Wunder, dass eine Gesellschaft, der die Gentomate als größte anzunehmende Bedrohung gilt, am liebsten auch ihren Sportlern das Biosiegel aufkleben würde. Dabei stellten physische Höchstleistungen noch nie einen Triumph der Natur dar, sondern einen des menschlichen Willens. Und das nicht erst seit Leni Riefenstahl.
Der Harvard-Philosoph Michael Sandel warnt in seinem Essay Plädoyer gegen die Perfektion , dass wir als Gesamtgesellschaft dabei seien, die Demut, den Respekt vor unseren natürlichen Grenzen zu verlieren. Tatsächlich begleitet die Gefahr der Hybris die Menschheit seit Anbeginn und wird durch jeden technologischen Fortschritt angefacht. Doch was bedeutet es, wenn wir uns vom Prinzip des »höher, schneller, weiter«, das von jeher der Zivilisationsmotor gewesen ist, verabschieden? Gesellschaften können nicht nur am Größenwahn zugrunde gehen. Sondern ebenso im braven Mittelmaß versinken. Und Letzteres ist in Demokratien, die der Egalität verpflichtet sind, die realere Gefahr – auch wenn wir uns so gern der Selbstüberhebung bezichtigen. Wir brauchen Individuen, die kühn (und verrückt) genug sind, über die Grenzen, die Natur dem Menschen gezogen hat, hinausgehen zu wollen.
Sicher, es war Mephisto, der dem leidenschaftlichen Grenzüberschreiter Faust einen dubiosen Trank reichte, um ihn aus seiner muffigen Studierstube zu entführen. Will man es christlich ausdrücken, gehen auch die »Dopingsünder« einen Teufelspakt ein, wenn sie ihre Venen zweifelhaften Ärzten hinhalten. Aber lassen wir doch die Kirche in der Kirche. Ehren wir die Fausto Coppis, Tom Simpsons und Marco Pantanis wenigstens postum damit, dass wir den Sport vom Reinheitsgebot und der damit verbundenen Heuchelei erlösen.
Wollt ihr die totale Revision?
Thea Dorn erklärt, wieso die Erde kein Paradies und dies dennoch kein Weltuntergang ist. ,
Traditionell überlassen wir den Part des Propheten, der durch unsere unwirtlichen Städte wandert, das baldige Ende der »großen Hure Babylon« verkündet und die Passanten zur Umkehr mahnt, dem Kreis bibelfester Obdachloser. Doch seit die Finanzkrise Banken gesprengt und die Automobilindustrie ins Stottern gebracht hat, sind auch die gebildeten Stände von einer aggressiven Prophetitis befallen. So war von Thomas Friedman, einem der prominentesten Kolumnisten der New York Times, zum Jahresende zu lesen: »In letzter Zeit gehe ich in Restaurants, schaue mich an den Tischen um, an denen es immer noch von jungen Leuten wimmelt, und ich habe dieses Bedürfnis, von Tisch zu Tisch zu gehen und zu sagen: >Sie kennen mich nicht, aber ich muss Ihnen sagen, Sie sollten hier nicht sein. Sie sollten Ihr Geld sparen. Sie sollten Ihren Thunfisch zu Hause
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