Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
flächendeckendes Doping in dieser Sportart einfach ignoriert werden. Je mächtiger der Wunsch, desto größer die Bereitschaft zur Selbsttäuschung.
Das vordergründig schlagendste Argument, warum Doping im Sport »böse« sei, besagt, dass es den Grundgedanken des Sports, den eines fairen Wettbewerbs, zerstöre. Dies erklärt auch, warum die Allgemeinheit auf Doping in der Kunst so deutlich weniger empört reagiert: Zwar konkurrieren Maler, Sänger und Schriftsteller ebenso erbittert um Ausstellungen, Platinalben und Bestseller wie Sportler um Medaillen, Podestplätze und Weltrekorde, doch löst sich in der Sphäre der Kunst die klare Bipolarität von Sieg und Niederlage, die den Kern des sportlichen Wettstreits ausmacht, in das diffusere Konzept von Erfolg und Misserfolg auf.
Betrachtet man das Argument der Unfairness genauer, erweist es sich allerdings als stumpfes Schwert: Die Chancengleichheit der um den Sieg wetteifernden Sportler ist ohnehin eine Schimäre: Radfahrer mit größerem Lungenvolumen treten gegen Radfahrer mit kleinerem Lungenvolumen an, Langstreckenläufer aus dem afrikanischen Hochland sind von Kindesbeinen an ihren Flachlandkollegen überlegen, Fußballmannschaften aus reichen Ländern haben mehr Geld für die Betreuung als solche aus ärmeren Ländern. Konsequent zu Ende gedacht, würde die Vision eines komplett chancengleichen Sports darauf hinauslaufen, dass am Schluss alle zeitgleich über die Ziellinie kommen. Das Herz des Radikaldemokraten mag bei einer solchen Vorstellung schneller schlagen – das des Sportfans dürfte weniger glücklich sein.
Endgültig ad absurdum geführt wird der Vorwurf der Unfairness, ist man bereit einzusehen, dass es sich bei dopenden Sportlern nicht um vereinzelte »schwarze Schafe« handelt, sondern um ein systematisches Phänomen. Oder wie Jörg Jaksche sagt: »Es war ja nicht so, dass ich eine Atombombe hatte und die anderen kämpften immer noch mit der Machete.«
Der niederländische Tour-de-France-Dritte von 1983, Peter Winnen, beschreibt die Lage mit einem ähnlichen Bild: »Es ist wie im Kalten Krieg: Die eine Seite rüstet auf, die andere zieht nach, das Gleichgewicht ist wieder hergestellt.«
So wie es im Kalten Krieg vernünftiger gewesen wäre, die Sowjets und die Amerikaner hätten das Wettrüsten gar nicht erst begonnen, wäre es im Radsport sicher vernünftiger, die Profis pumpten ihre Körper nicht mit Substanzen voll, die sie im Extremfall dazu zwingen, nachts Kopfstand zu machen, damit ihr Blut wieder zirkuliert. Doch so wie im Kalten Krieg das »Gleichgewicht des Schreckens« dafür sorgte, dass die Weltlage einigermaßen stabil war, sorgt es im Radsport dafür, dass wir einigermaßen faire Rennen sehen. Wo alle dopen, nivellieren sich die individuellen Dopingvorteile.
Seit der Staat jedoch das Rauchen in öffentlichen Räumen verboten hat und seinen Zöglingen am liebsten vorschreiben würde, was sie sich in die Lunchbox packen sollen, klingen paternalistische Sorgen gut; und in der Tat stellt es ein immenses Unrecht dar, wenn totalitäre Staaten – oder totalitäre Eltern – heranwachsende Sportler zwangsdopen. Doch liegt das Problem hier eher im Zwang und weniger im Doping. Denn das Argument, Sport verwandle sich erst durch die Einnahme illegaler Substanzen in eine gesundheitsschädigende Betätigung, kann nur denjenigen überzeugen, der sich noch nie auf dem Schwebebalken gequält und seinen Kopf hingehalten hat, als ein Fußball mit hundert Stundenkilometern angeflankt kam, oder noch nie versucht hat, den Mont Ventoux auf zwei Reifen zu erklimmen.
Die tieferen Gründe für die Aversion gegen Doping müssen woanders liegen. Trotz der Dauerberichterstattung über Doping im Radsport herrscht immer noch eine karikaturhaft naive Vorstellung davon, wie Doping die Leistungsfähigkeit eines Sportlers beeinflusst. Mithilfe von Doping errungenen Siegen haftet der Ruch des »Billigen« an. Aber glaubt die Couch-Potatoe wirklich, ein einziger Rennfahrer habe jemals die Tour de France gewonnen, nur weil er mit der Dopingspritze im einen Arm und der Chipstüte in der anderen Hand auf der Veranda gesessen hätte, während sich die Kollegen monatelang im Sattel schunden?
Der bekennende Kiffer Walter Benjamin notiert in seiner Schrift Über Haschisch : »Man geht die gleichen Wege des Denkens wie vorher. Nur scheinen sie mit Rosen bestreut.« Wie sehr wünscht man sich, ein Jan Ullrich möge endlich den Wahrheitsmut aufbringen und sagen: »Man
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