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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Netzwerke, so müssen wir jetzt erkennen, sind Urgewalten, mit denen wir gespielt, deren Kräfte wir entfesselt haben und deren Kontrolle uns und unseren Kindern zu entgleiten droht.«
    Schirrmacher kann auf eine solide bundesrepublikanische Katastrophen-Vorarbeit setzen.
    Von sich rächenden Urgewalten weiß der Schriftsteller und Öko-Aktivist Carl Amery (1922 – 2005) bereits in den 80er Jahren zu berichten: »Das Waldsterben«, schreibt er, »ist der untrüglich einsetzende Versuch der Gaia, d. h. des Lebewesens Erde, sich durch eine gewaltige Operation einer misslungenen Spezies zu entledigen... Es erfordert die totale Revision unserer so genannten Werte. Darunter läuft nichts mehr.«
    Philosophisch anspruchsvoller, aber nicht weniger »total« formuliert taucht der Gedanke des »darunter läuft nichts mehr« schon gut zwanzig Jahre früher in Karl Jaspers’ Schrift Die Atombombe und die Zukunft des Menschen auf: »Vor der Drohung totaler Vernichtung sind wir zur Besinnung auf den Sinn unseres Daseins zurückgeworfen. Die Möglichkeit der totalen Zerstörung fordert unsere ganze innere Wirklichkeit heraus.«
    Die Sehnsucht hinter der Katastrophenrhetorik ist: Der Mensch möge zur radikalen Umkehr finden. Deshalb reicht es auch nicht, die krisenhaften Exzesse unserer Lebensform zu benennen und nach konkreten, pragmatischen Auswegen zu suchen. Krisen sind von dieser Welt, gehören zur normalen Entwicklung der menschlichen Geschäfte. Katastrophen jedoch sind Ereignisse, die den Lauf der Dinge jäh unterbrechen, Eruptionen, die das Kontinuum sprengen, die Geschichte in eine andere Richtung zu reißen vermögen. Krisen machen das Leben auf unspektakuläre Weise anstrengend, weil sie die mühsame, sorgfältige Kleinarbeit der Nachbesserung und Feinjustierung erfordern. Katastrophen hingegen sind Zeiten der großen Geste. Die Katastrophe rüttelt das saturierte Individuum auf. Und gleichzeitig erlaubt sie ihm, sich zum Retter aufzuschwingen.
    Niemand spielt die Rolle des erschütterten Erschütterers derzeit so gut wie Al Gore. Es ist mehr als eine menschelnde Zutat, wenn der Mann, der sich zu Beginn von Eine unbequeme Wahrheit mit dem Satz: »Ich war früher mal der nächste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika« vorstellt, später im Film erzählt, wie seine Wendung zum Klimaretter geschah: Sein sechsjähriger Sohn rang nach einem Autounfall wochenlang mit dem Leben. Die private Katastrophe als Bekehrungserlebnis. Und gleichzeitig gibt der Friedensnobelpreisträger von 2007 halb selbstironisch zu, dass sein globaler Ökokreuzzug eine schöne Ablenkung von der Enttäuschung ist, das Präsidentenamt im Jahre 2000 so knapp verpasst zu haben. Selten lagen Ego-Show und Weltrettungsgestus dichter beieinander.
    Seit ihren Anfängen zielt die Warnung vorm Weltuntergang darauf ab, die Menschheit in ihrem Größenwahn zu zügeln, sie daran zu erinnern, dass es Mächte gibt, die größer sind als sie selbst. Doch schlägt die vom Endzeitraben grell vorgetragene Mahnung zur Demut, zur großen Einund Umkehr, nicht selbst in Hybris um, wenn sie sich dazu aufschwingt, unsere Gesellschaft insgesamt abzukanzeln und ihr deshalb die »totale Revision« zu verordnen? Steckt in dem Ekel, den unsere Apokalyptiker angesichts des alltäglichen tatsächlichen Lebens offenbar empfinden, nicht letztlich doch etwas zutiefst Lebensfeindliches, dem freudschen Todestrieb Verwandtes?
    Um Himmels willen, nein! würden die guten Menschen von ihren Klima-, Demografie- und Live-8-Gipfeln herabrufen. Wir mahnen und rütteln doch gerade, weil wir das Leben lieben, die Menschheit retten, der nächsten Generation eine nichtverwüstete Erde hinterlassen wollen. Unser Ekel ist nicht der Ekel vor dem Leben als solchem, sondern der Ekel vor dem falschen, kapitalistischen, ausbeuterischen, entfremdeten, oberflächlichen, egoistischen Leben, wie wir es in den westlichen Gesellschaften führen. Aber warum machen sich unsere Apokalyptiker auf dem wohlwollenden Auge blind, warum sehen sie nur die gierigen Manager, die (noch) nicht beseitigte Armut, den Konsumismus, die billige Plastikkultur, die verschmutzten Flüsse? Und nicht die verantwortungsvollen Unternehmer, die verbesserten Lebensbedingungen auch für die ärmeren Schichten, die Museen und Opernhäuser, die Naturschutzparks, die unsere angeblich so durch und durch verrottete Zivilisation ebenso hervorgebracht hat?
    »Die janze Richtung passt mir nicht.« Der Spruch, den Kaiser Wilhelm II.

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