Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
eins nach dem Mauerfall ein schmähliches Pfeifkonzert empfing, als er vor jenem Rathaus zu reden begann, vor dem Kennedy einst sein »Ich bin ein Berliner« gerufen hatte? Und was erzählt es über ihn, dass es ihm nicht gelang, in dieser historischen Stunde auch nur einen einzigen Satz zu prägen, an den wir uns heute noch erinnern könnten? Willy Brandt hat es mit seinem »Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört« geschafft.
Vielleicht war es tatsächlich der Wunsch, Wunder zu tun, der Kohl wenig später zu der höchst fragwürdigen Entscheidung trieb, den Wechselkurs von Ost- in West-Mark auf eins zu eins festzusetzen. Denn siehe da: Plötzlich liebten ihn die Menschen. Zumindest im Osten. »Helmut! Helmut!«-Chöre, wo immer sich der werdende »Kanzler der Einheit« zwischen Angermünde und Zwickau blicken ließ. Der Jubel währte indes nicht lange: Kohl war nicht Jesus. Realsozialistische Industriebrachen ließen sich nicht über Nacht in blühende Landschaften verwandeln. Als Kohl im Mai 1991 in Halle auftrat, flogen Eier und Tomaten.
Versucht man, sich ein Bild von der Rolle zu machen, die Kohl im Prozess der deutschen Wiedervereinigung gespielt hat, stößt man auf Widersprüchliches. Einigkeit herrscht lediglich darüber, dass er die deutsche Einheit mit aller Entschlossenheit und einigem politischen Geschick betrieb. Darüber hinaus reicht das Spektrum vom »Staatsmann des Jahrzehnts« – eine Auszeichnung, die Kohl vom New Yorker EastWest Institute 1999 verliehen wurde – bis zum vernichtenden Urteil des Philosophen und Literaturwissenschaftlers Karl Heinz Bohrer: »Der Begriff ›politische Lebensleistung< ist nichts anderes als der Euphemismus für geballte Mittelmäßigkeit und Gestalt gewordene Trivialität, die der Zufall in eine Epoche großer Entscheidungen warf.« Das Bild bleibt unklar: Deutsch-europäische Zugmaschine oder doch nur ein – zugegebenermaßen massiges – Blatt im Sturm der Geschichte?
Die ganze Ambivalenz zeigt sich in einer Anekdote, die Condoleezza Rice, damals schon außenpolitische Beraterin bei Präsident Bush senior, erzählt. Gorbatschow ist im Mai 1990 nach Washington gereist. Es geht um den ebenso zentralen wie heiklen Punkt, ob die UdSSR zustimmt, dass ein wiedervereinigtes Deutschland Mitglied der NATO bleibt. Nach langen Verhandlungen sagt Gorbatschow endlich ja. Washington ruft Bonn an, um die frohe Botschaft zu überbringen. In ihrem Buch über den deutschen Wiedervereinigungsprozess schreibt Rice: »Es war, als sei die Information so umwerfend, dass sie, selbst wenn Bush sie in Riesenlettern geschrieben hätte, einfach nicht durchdrang.« Insider kolportieren, in jener Nacht habe die Sicherheitsberaterin sich weniger diplomatisch ausgedrückt: »Kohl doesn’t get it .« Kohl kapiert’s nicht.
Paradoxerweise scheint gerade die Tatsache, dass auch im Ausland niemand Kohl für einen »großen Deutschen« gehalten hat, sein größter Trumpf als Staatsmann gewesen zu sein. »Er ist die verkörperte Entwarnung und hätte einen Heine nicht um den Schlaf gebracht«, bescheinigte ihm Jürgen Habermas Mitte der 90er Jahre. Und in der Tat schien der leutselig dröhnende Pfälzer auch George Bush, Michail Gorbatschow, seinen französischen Männerfreund François Mitterrand und sogar die von ihm leicht dauergenervte Margaret Thatcher nicht um den Schlaf gebracht zu haben. Allenfalls, indem er sie in den »Deidesheimer Hof« zu den berüchtigten Saumagengelagen mitschleppte. Solch deutsches Wesen hatte die Drohung, an ihm möge die Welt genesen, glaubhaft im Riesling ertränkt. Kohls größte außenpolitische Leistung – die seine größte innenpolitische Leistung ermöglicht hat – dürfte darin liegen, den Rest der Welt endgültig von der Harmlosigkeit Deutschlands überzeugt zu haben. Allerdings ist vor diesem Hintergrund zu befürchten, dass Kohls zweites großes Verdienst, sein Engagement für den europäischen Einigungsprozess, weniger einer politisch-kulturellen Vision von den »Vereinigten Nationen Europas« entsprang, als vielmehr dem Bedürfnis des Gastgebers, möglichst viele an seiner Tafel zu versammeln, um es sich in harmonisch-stimmungsvoller Runde gut gehen zu lassen.
Bei aller Harmlosigkeit im Weltmaßstab: Die Liste der Skandale und Fehltritte, die Kohl sich im Laufe seiner sechzehnjährigen Kanzlerschaft geleistet hat, zeugt davon, dass sein Machtsystem nach innen so harmlos nicht gewesen sein kann. Im Flick-Skandal, als er den wegen
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