Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
der arme Schlucker auch von allen Männern über die Achsel angesehen wird, als Mann steht er doch über der größeren Hälfte des Menschengeschlechts – über den Frauen. Da spielt er die erste Geige, die eigentlich eine Pfeife ist, nach der das Weib zu tanzen hat.«
In diesem Sinne hat sich durch die Frauenemanzipation die Lage für die Männer tatsächlich zugespitzt: Musste mann seine Konkurrenzkämpfe früher lediglich mit den Geschlechtsgenossen austragen und durfte erwarten, dass die Ehefrau daheim das geknickte Ego schon wieder aufrichten würde, getreu der Devise »Hier ist er Chef, hier darf er’s sein«, hat sich die Kampfzone ausgeweitet. Ebenso gut ließe sich also von einer »Maskulinisierung der Gesellschaft« sprechen – wenn man bereit ist, unter »maskulin« mehr zu verstehen als die Karikatur eines Homo neanderthalensis. Der Druck, sich durch individuell erbrachte Leistung, durch Disziplin, Lernbereitschaft, Durchsetzungsvermögen und Durchhaltekraft seinen Platz im Leben zu erobern, ist in der modernen Welt seit der Frauenemanzipation weiter gestiegen. Und dieser Druck, gekoppelt mit dem Verlust des geschlechtsbedingten Überlegenheitsgefühls, produziert offensichtlich eine neue Schicht von männlichen Verlierern. Am besten lässt sich diese neue Schicht an »Problemschulen« studieren: Aggressive leistungsverweigernde junge Türken oder Araber, die umso aggressiver und leistungsverweigernder reagieren, je erfolgreicher ihre Schwestern im Unterricht werden.
Der Pädagoge Frank Beuster hat ein Buch zur »Jungen-Katastrophe« verfasst, das trotz seines reißerischen Titels ausgewogene und pragmatische Vorschläge enthält, wie Schulen und die Gesellschaft insgesamt mit dem Problem umgehen sollten. Zentral ist für ihn die Annahme, »dass besonders die Kinder und Jugendlichen bessere Voraussetzungen zur Lebensbewältigung entwickeln können, die sich von den traditionellen starren, stereotypen Rollenmodellen von Mann und Frau trennen können.«
Nichts ist einzuwenden gegen Beusters Forderung, dass Jungen, gerade um eine Identität jenseits von Männlichkeitsklischees ausbilden zu können, männliche Vorbilder brauchen, in deren Obhut sie »kultivierte Aggressionserfahrungen« machen können. Es ist allerdings zu bezweifeln, dass der Pädagoge es für eine »kultivierte Aggressionserfahrung« hält, wenn ressentimentgeladene Ältere den Jüngeren einreden, sie seien die neuen Gesellschaftsopfer – weil etwa die Bundesfamilienministerin Broschüren herausgibt, in denen sie Mädchen ermuntert, ihre Potenziale zu entfalten und sich nicht kleinmachen zu lassen. Vorbild können nur Männer sein, die so souverän und selbstbewusst sind, dass nicht einmal die souveräne und selbstbewusste Frau sie aus der Ruhe bringt. Keine Rumpelstilzchen, die sich vor Wut in der Luft zerreißen, weil die Königin sie beim Namen genannt hat.
Verdruckster Patriarch
Thea Dorn erinnert sich an Helmut Kohl.
Plötzlich ist er wieder da. Ein mächtiger Schatten im Gegenlicht.
Die Deutschen haben Helmut Kohl zum wichtigsten Mann in der Geschichte der Bundesrepublik gekürt. 1
Den versierten Horrorfreund darf dieses Szenario nicht erschrecken. Er weiß: Der schwarze Mann taucht unweigerlich noch einmal auf, sobald sich der Zuschauer in Sicherheit wiegt. Die Zeitgenossin jedoch gesteht: Ihr ist der Schreck in die Glieder gefahren. Nicht Schmidt, nicht Brandt, nicht Adenauer, sondern ausgerechnet Kohl soll der größte Bundesrepublikaner sein?!
Unweigerlich fällt ihr der Aufkleber ein, der im Wahlkampf 1983 ihre Schultasche zierte: »Birne muss Kanzler bleiben!« Am ersten Oktober des Vorjahres, als Helmut Schmidt im Bundestag gestürzt und Helmut Kohl vereidigt wurde, hatte sie vor dem Fernseher gesessen und geweint. Kurz darauf war sie begeistert gewesen, weil Joschka Fischer das hessische Ministerparkett auf Turnschuhsohlen betreten hatte. Lange vorbei. Wäre es nicht an der Zeit, die von den altlinken Birneverächtern wie Hans Traxler und Klaus Staeck genährte Kohl-Aversion abzulegen und einen gerechteren Blick auf den Altkanzler zu wagen?
Es gibt einen Kohl-Witz, der das bekannte Bild von »Helmut, dem Tölpeligen« übersteigt: Kohl steht am Rhein und betet zu Gott um ein Wunder, damit die Menschen endlich an ihn glauben. Das Wunder geschieht, Kohl schreitet über den Rhein. Doch was rufen die Leute? »Seht ihr, er kann noch nicht mal schwimmen.«
Ob Kohl an diesen Witz gedacht hat, als ihn am Tag
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