Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
Bestechlichkeit angeklagten Graf Lambsdorff von seinem Kabinettstisch hätte entfernen müssen, stellte er sich störrisch vor den Wirtschaftsminister. In Bitburg beharrte er darauf, zusammen mit Ronald Reagan einen Friedhof zu besuchen, auf dem sich unter anderem neunundvierzig Gräber von Angehörigen der Waffen-SS befanden – ein Detail, das Kohls Stab bei der ersten Friedhofsbegehung angeblich übersehen hatte. Die Namen der illegalen Parteispender verschweigt der Altkanzler bis heute ebenso wie die Zwecke, für die das Geld der schwarzen Konten eingesetzt wurde. Das Irritierendste an all dem: Kohls bräsiger Trotz, seine alles niederwalzende Selbstgerechtigkeit. Wie gut hätte es nicht nur seinem, sondern dem Ansehen der deutschen Politik insgesamt getan, hätte er ein einziges Mal den Satz sagen können: »Ja, ich habe Fehler gemacht.« Exakt diese Fähigkeit unterscheidet den souveränen Patriarchen vom verdrucksten.
Was verrät es nun aber über uns, dass wir ausgerechnet Kohl zum wichtigsten Bundesrepublikaner gewählt haben?
Es lohnt sich, das »wir« genauer zu betrachten. Es sind die 30- bis 44-Jährigen. Jene Jahrgänge, die sich von Florian Illies weitgehend widerspruchslos als »Generation Golf« haben taufen lassen.
Das Ergebnis muss man wohl als weiteres Indiz für die Geschichtsvergessenheit und infantile Egozentrik dieser Generation deuten. Mit Kohl sind sie sechzehn Jahre lang aufgewachsen. Kohl hat ihre Kindheit bzw. Jugend geprägt – und dass es auf der Welt etwas Größeres als ihre Kindheit und Jugend geben kann, übersteigt ihren Horizont. Wobei die Überhöhung Kohls durch die 30- bis 44-Jährigen mit ostdeutscher Vergangenheit noch eher zu verstehen ist: Für sie hat er Horizonte geöffnet, die zuvor vom Eisernen Vorhang versperrt waren. Wenn sie »Kohl« sagen, dürften sie weniger an ihr erstes Nutellabrot denken als vielmehr an ihre erste Reise nach Paris, New York, Ibiza.
Dem flüchtigen Blick mag es so scheinen, als ob Welten lägen zwischen dem biederen Strickjackenträger, der es wohnsitzhalber dann doch nur von Ludwigshafen-Friesenheim bis Ludwigshafen-Oggersheim geschafft hat, und den smarten »Golfern«, die ihre stets frisch gebügelten Designerhemden mit kosmopolitischer Selbstverständlichkeit zwischen Berlin, Kathmandu und London zu tragen wissen. Bei genauerem Hinsehen reduziert sich der Unterschied jedoch tatsächlich auf den zwischen Strickjacke und Designerhemd.
Am Ende von Generation Golf, jenem im Jahre 2000 erschienenen »Kultbuch«, bedankt sich Florian Illies bei seinem Literaturagenten. Und bei Helmut Kohl. Dass mehr dahintersteckt als ein Scherz, wird klar, wenn man sich die anderen Bücher von Illies anschaut: In seiner Anleitung zum Unschuldigsein erteilt er seinen Landsleuten launige Ratschläge, wie sie ihre diversen Schuldmacken überwinden könnten. Muss man sie nicht im Kontext von Kohls missratener Rede vor dem israelischen Parlament im Jahre 1984 lesen, als dieser die »Gnade der späten Geburt« bemühte, um seine Erleichterung auszudrücken, dass er zu jung gewesen sei, um sich in Nazideutschland die Hände schmutzig zu machen? Und singt Illies in seinem Buch Ortsgespräch nicht ein Loblied auf die Kindheit in der hessischen Provinz, in das Kohl bei einem guten »Schöppsche« sofort einstimmen könnte?
Karl Heinz Bohrers Schimpfwort von der »hedonistischen Provinz« trifft mitnichten nur auf Oggersheim zu. Berlin-Mitte darf sich getrost ebenso angesprochen fühlen.
Die Park Avenue, jenes unlängst eingestellte Magazin, in dem die nicht mehr ganz junge, aber dennoch nicht erwachsene Generation sich selbst bespiegelte, widmete dem »Eur-Opa« Kohl in einer ihrer letzten Ausgaben ein langes Porträt. Die zentrale Botschaft: »Erwirkt wirklich sehr nett, wenn man seine Freunde so hört.«
Nichts gegen »nett«. Doch was bedeutet es für das intellektuell-politische Klima eines Landes, wenn »nett« zum Leitwert erhoben wird? Und ist es nicht ein unseliger Generationenfrieden, den Illies & Co. mit Kohl geschlossen haben, indem sie ihm offensichtlich nach wie vor dankbar sind, dass er sie mit der Illusion hat aufwachsen lassen, sie dürften an ihren Playmobilburgen weiterbasteln und die Politik getrost Papa überlassen? Das Prinzip Harmlosigkeit war eine überzeugende Abkehr von der »Blonden Bestie«. Aber ist es zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht höchste Zeit für ein drittes Prinzip – das Prinzip Verantwortung? Um dies anzuerkennen, wäre
Weitere Kostenlose Bücher