Achtung Denkfalle! - die erstaunlichsten Alltagsirrtümer und wie man sie durchschaut
Fragestellung – etwa der: «Welches ist besser, das herkömmliche Medikament oder ein neu entwickeltes?» – mehr als nur eine Studie, mehr als nur einen Datensatz, mehr als nur ein Ergebnis. Um zu einer Gesamteinschätzung zu gelangen, muss man die Daten in datenanalytisch seriöser Weise vereinigen.
Um das letzte Beispiel fortzuspinnen: Angenommen, jede einzelne Studie belegt für sich genommen eindeutig, dass das neue Medikament besser ist als ein altes. Das ist erfreulich: Alle Ergebnisse weisen in dieselbe Richtung und widersprechen sich nicht. Was aber, wenn bei Zusammenfassung der einzelnen Studienergebnisse sich das gegenteilige Gesamtergebnis einstellt und jetzt das alte (!) Medikament besser ist als das neue? Kann bei so präzisen und objektiven Größen wie Zahlen so etwas Ominösesüberhaupt passieren, vorausgesetzt, die Daten werden korrekt zusammengefasst? Und wenn es passieren kann, wäre diese Datendoppeldeutigkeit nicht ein interpretatorisches Fiasko, das einem den Glauben an die Möglichkeit objektiver Datenanalyse eigentlich rauben müsste? Gar den Glauben an die Mathematik? Wir tasten uns an die Antwort auf diese Fragen heran. Ausgangspunkt ist eine leicht überschaubare medizinische Standardsituation, eine konkrete Ausformung des angesprochenen Medikamentenvergleichs. Sie demonstriert, wie uns bisweilen selbst Zahlen blenden können, und zeigt auf, welche Vorsicht bei der Aggregierung von Zahlen geboten ist.
Abbildung 5: «Wie hätten Sie’s gern? Mit KristallkugelHokuspokus oder statistischer Wahrscheinlichkeitstheorie?» Cartoon von Sidney Harris.
Neugierweckendes.
Zwei Allergiemedikamente
M 1
und
M 2
werden in den Gebieten A und B einer Stadt getestet. In A, dem Industrieviertel, werden von 16 Patienten, die das Medikament
M 1
nehmen, 4 gesund, ebenso 11 von 40 Patienten, die Medikament
M 2
nehmen. In B, dem Nicht-Industrieviertel, werden 29 von 40 Patienten nach Einnahme von
M 1
und 12 von 16 Patienten nach Einnahme von
M 2
gesund. Aus diesen Zahlen lassen sich mit einfacher Bruchrechnung die Heilungsquoten errechnen.
Die Heilungsquote von
M 1
im Industrieviertel ist 4/16 = 1/4, also 25 %. Eine von 4 Personen wird von den Allergiesymptomen geheilt. Die Heilungsquote von
M 2
im Industrieviertel ist 11/40 > 1/4 und damit größer als 25 %. In der Region A ist demnach
M 2
das wirksamere Medikament. In der Region B verhält es sich ebenfalls so: Die Heilungsquote von
M 2
ist 12/16 = 3/4, also 75 %, und die Heilungsquote von
M 1
ist 29/40 < 3/4, also kleiner als 75 %. So weit, so nichts Verwirrendes. Als Ergebnis kann man somit notieren: Die Heilungsquote von Medikament
M 2
ist in beiden Stadtgebieten größer als die von Medikament
M 1
. Das erfolgreichere Medikament ist
M 2 .
Dieser letzte Satz als Fazit scheint sich nicht nur zwanglos, sondern sogar zwingend zu ergeben. Er wirkt ganz selbstverständlich und wie von selbst aufs Papier geschwebt. Wie kann man auch nur einen Hauch von Zweifel hegen, dass es so sein muss.
Aber seien wir vorsichtig, geben wir den Zahlen die Ehre und rechnen nach. Was ergibt sich bei einer Zusammenrechnung der Daten aus beiden Gebieten der Stadt? Die Gesamtheilungsquote von
M1
ist (4 + 29)/(16 + 40) = 33/56, was größer als 50 % ist. Die Gesamtheilungsquote von
M 2
ist (11 + 12)/(40 + 16) = 23/56, was kleiner als 50 % ist. Unglaublich!
Nach ehrlicher Zusammenfassung der Daten erweist sich überraschenderweise das Medikament
M 1
gegenüber
M 2
als das erfolgreichere. Die Rechnungen stimmen übrigens und der Effekt ist real. Es ist kein rechnerischer Taschenspielertrick. Wir erleben ein Paradoxon in Aktion, das quantitativ ungefestigte Naturen leicht aus dem Gleichgewicht bringen kann. Wir sehen ein Parade-Paradigma eines Großparadoxons, das ohne Rest in scheinbar völlige Orientierungslosigkeit eingebettet ist. Charakterisiert es den Zerfall von Wirklichkeit minus Beliebigkeit? Kann es Vergleiche undurchführbar machen? Es ist offensichtlich möglich, lokal überall der Gewinner zu sein und trotzdemglobal zu verlieren. Die hohe Kunst der Verwirrung mit Zahlen und mit einfachsten Beziehungen wie größer oder kleiner, hier scheint sie bei sich selbst angekommen. Schon bei solchen Elementarobjekten und Einfachoperationen wie Anteilen und deren Zusammenfassung sind handfeste kontraintuitive Überraschungen möglich.
Dies ist eine erste Kostprobe des sogenannten Simpson’schen Paradoxons. Die Paradoxie besteht in der Möglichkeit, dass bei einer
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