Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
daß sie irgendwo gelesen hatte, es sei nicht zwingend notwendig, eine Leiche vorzuzeigen, um einen Mord nachweisen zu können, aber vielleicht wußte Gabriel das ja nicht. Er war wahnsinnig, eine andere Erklärung gab es nicht. Womöglich bastelte, tüftelte und feilte er genau in diesem Augenblick an einem Plan, um sich ihrer zu entledigen. Was wäre besser, als bis hart an den Rand einer Klippe zu fahren und sie ins Meer zu stürzen; sie gefesselt, wie sie war, in einem Graben zu verscharren; oder sie in einen alten Bergwerksschacht zu werfen, wo sie mutterseelenallein und elend verhungern und verdursten würde? All diese Schreckensbilder jagten einander, eins furchtbarer als das andere: der entsetzliche Sturz durch die Finsternis in die schäumende Brandung, das nasse Laub und die glitschige Erde, die ihr Augen und Mund verstopfte, bis sie langsam und qualvoll erstickte, der senkrecht abfallende Tunnel der Mine, in dem sie in klaustrophobischer Enge dem Hungertod entgegensehen würde.
Der Wagen fuhr ruhig und zügig weiter. Offenbar hatten sie die letzten Ausläufer Londons hinter sich gelassen und waren jetzt draußen auf dem Land. Frances zwang sich zur Ruhe. Sie war noch am Leben. Daran mußte sie sich einfach festhalten. Noch bestand Hoffnung, und falls sie wirklich sterben mußte, dann würde sie versuchen, tapfer in den Tod zu gehen. Gerard und Claudia, beides Agnostiker, waren bestimmt mutig gestorben, auch wenn ihnen kein würdiger Tod vergönnt gewesen war. Sie selbst war gläubig, aber was war dieser Glaube denn wert, wenn er ihr nicht wenigstens half, es den beiden gleichzutun?
Sie sprach ein Bußgebet, dann eine Fürbitte für die Seelen von Claudia und Gerard, und ganz zum Schluß betete sie auch für sich und die eigene Errettung. Mit den altvertrauten, tröstenden Worten kam die Gewißheit, daß sie nicht allein sei. Frances begann zu planen. Da sie nicht wußte, was Gabriel mit ihr vorhatte, war es schwer, Gegenmaßnahmen zu ersinnen, aber in einem Punkt wenigstens war sie sich ganz sicher. Er war bestimmt nicht stark genug, um sie ohne Hilfe über eine größere Strecke zu tragen. Das bedeutete, er würde ihr zumindest die Beinfesseln lösen müssen, wenn sie am Ziel waren. Sie war jünger und kräftiger als er, und wenn sie auch nur die kleinste Chance bekam, würde sie um ihr Leben rennen. Doch wie immer es auch ausgehen mochte, sie würde nicht um Gnade betteln.
Fürs erste aber mußte sie dafür sorgen, daß ihre Glieder nicht steif wurden. Ihre Hände waren mit etwas Weichem zusammengebunden, vielleicht mit Gabriels Krawatte oder einem Socken. In der Garage war er ja bestimmt nur auf ein Opfer vorbereitet gewesen. Trotzdem hatte er ganze Arbeit geleistet. Sie konnte die Handgelenke nicht aus den Fesseln befreien. Die Füße waren genauso fest, wenn auch weniger schmerzhaft zusammengebunden. Immerhin konnte sie ihre Beinmuskeln trotz der Fesseln anspannen und wieder lockern, und schon diese kleine Vorbereitung auf die geplante Flucht gab ihr Kraft und Mut. Frances sagte sich auch, daß sie die Hoffnung auf Rettung nicht aufgeben dürfe. Wie lange würde James warten, bevor er sie als vermißt meldete?
In der ersten Stunde würde er vermutlich nichts unternehmen, sondern einfach denken, sie sei im Verkehr steckengeblieben, oder die U-Bahn hätte Verspätung. Aber dann würde er Nummer 12 anrufen und es, wenn sich dort niemand meldete, in Claudias Wohnung im Barbican versuchen. Selbst dann würde er sich vielleicht noch nicht ernsthaft Sorgen machen. Aber länger als anderthalb Stunden würde er bestimmt nicht warten. Vielleicht nahm er sich dann ein Taxi zu ihrer Wohnung, und wenn sie Glück hatte, hörte er womöglich den laufenden Motor in der Garage. Sobald man Claudias Leiche entdeckt und Dauntseys Verschwinden bemerkt hatte, würden alle Polizeistreifen alarmiert und auf seinen Wagen angesetzt werden. An diese Hoffnung mußte sie sich klammern.
Er fuhr und fuhr. Da sie nicht auf die Uhr sehen konnte, war Frances allein auf ihr Zeitgefühl angewiesen, und die Fahrtrichtung konnte sie schon gar nicht erraten. Auf die Überlegung, warum Gabriel wohl zum Mörder geworden war, verschwendete sie keine Kraft. Es war zwecklos, darüber nachzudenken; die Frage konnte nur er selbst ihr beantworten, und vielleicht würde er das am Ende ja auch tun. Statt dessen dachte Frances über ihr eigenes Leben nach. Ein lange Reihe von Kompromissen, etwas anderes war es nicht gewesen. Was hatte sie ihrem
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