Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
Vater anderes entgegengebracht als ergebenen Gehorsam, der sein Unverständnis und seine Verachtung ihr gegenüber nur noch verstärkte? Warum war sie auf sein Geheiß so lammfromm in den Verlag eingetreten und hatte sich zur Leiterin der Abteilung Rechte und Lizenzen ausbilden lassen? Der Arbeit war sie durchaus gewachsen; sie war gewissenhaft und gründlich und nahm es selbst mit Kleinigkeiten sehr genau. Nur hatte sie sich ihr Leben eigentlich ganz anders vorgestellt. Und Gerard? Im Innern hatte sie immer gewußt, daß er sie bloß ausnutzte. Er hatte sie so verächtlich behandelt, weil sie sich verachtenswert benahm. Wer war sie? Und was? Frances Peverell, eine zuvorkommende, sanfte, duldsame graue Maus, Anhängsel ihres Vaters, ihres Liebhabers, des Verlags. Jetzt, wo ihr Leben vielleicht zu Ende ging, konnte sie wenigstens sagen: »Ich bin Frances Peverell. Ich bin, was ich bin.« Und falls sie am Leben blieb und James heiraten würde, dann konnte sie ihm nun zumindest eine ebenbürtige Partnerschaft anbieten. Sie hatte den Mut gefunden, sich dem Tod zu stellen, aber das war ja eigentlich gar nicht so schwer. Tausende von Menschen, darunter sogar Kinder, taten das, jeden Tag. Es war an der Zeit, daß sie dem Leben gegenüber den gleichen Mut aufbrachte.
Seltsamerweise war sie auf einmal ganz ruhig. Von Zeit zu Zeit sprach sie noch ein Gebet, rief sich die Verse eines ihrer Lieblingsgedichte in Erinnerung und blickte in Gedanken auf besonders schöne und glückliche Momente zurück. Ja, sie versuchte sogar, ein bißchen zu schlafen, was ihr vielleicht auch gelungen wäre, wenn ein plötzliches Holpern des Wagens sie nicht wachgerüttelt hätte. Gabriel fuhr jetzt offenbar durch unwegsames Gelände. Der Wagen ruckelte, schlingerte, holperte durch Schlaglöcher, kippte von einer Seite auf die andere, und sie mit. Dann wurde der Untergrund wieder ebener; wahrscheinlich, dachte sie, sind wir jetzt auf einem Feldweg. Und dann hielt der Wagen, und sie hörte, wie Gabriel seine Tür aufstieß.
64
In Hillgate Village sah James auf die Stiluhr auf dem Kaminsims. Es war neunzehn Uhr zweiundvierzig. Seit seinem Anruf bei Frances war bereits etwas über eine Stunde vergangen. Eigentlich müßte sie jetzt schon hiersein. Noch einmal überschlug er rasch die Kalkulation, die er während der letzten sechzig Minuten immer wieder aufgestellt hatte. Es waren zehn U-Bahn-Stationen zwischen Bank of England und Notting Hill Gate. Er rechnete zwei Minuten pro Haltestelle, etwa zwanzig Minuten für die Fahrt und eine Viertelstunde für den Weg bis zum Bahnhof der Central Line an der Bank. Aber vielleicht hatte Frances Claudia verpaßt und sich ein Taxi rufen müssen. Doch selbst dann hätte die Fahrt keine volle Stunde gedauert, nicht einmal während der Rush-hour und im Zentrum von London, außer vielleicht bei so ungewöhnlichen Verzögerungen wie Straßensperren oder Bombenalarm. James wählte noch einmal Frances’ Nummer. Erwartungsgemäß nahm niemand ab. Dann versuchte er es ein weiteres Mal bei Claudia, auch dort ohne Erfolg, was ihn freilich nicht verwunderte. Sie war vielleicht direkt vom Büro aus zu Declan Cartwright gefahren, oder womöglich hatte sie auch eine Verabredung zum Abendessen oder ging ins Theater. Jedenfalls gab es keinen Grund, warum Claudia hätte daheim sein sollen. Er stellte das Radio an und suchte den Londoner Lokalsender. Zehn Minuten mußte er warten, bevor das nächste Nachrichtentelegramm kam. U-Bahn-Benutzer wurden um Verständnis für die Verspätung bei der Central Line gebeten. Ein Grund wurde nicht bekanntgegeben, was in der Regel IRA-Alarm bedeutete, aber der Sprecher teilte mit, daß zwischen Holborn und Marble Arch vier Stationen geschlossen seien. Aha, das war die Erklärung. Nun konnte es gut und gern noch einmal eine Stunde dauern, bis Frances kam. Ihm blieb nichts weiter übrig, als sich in Geduld zu üben und abzuwarten.
Rastlos ging James im Wohnzimmer auf und ab. Frances neigte ein wenig zur Klaustrophobie. Er wußte, wie ungern sie den Fußgängertunnel in Greenwich benutzte. Und eigentlich hatte sie auch eine Abneigung gegen die U-Bahn. Sie säße jetzt nicht da unten fest, wenn sie sich nicht so beeilt hätte, nur um ihm beizustehen. Hoffentlich brannte in den Zügen im Tunnel wenigstens Licht und sie hockte nicht womöglich schutzlos in völliger Finsternis. Ganz plötzlich hatte er eine ebenso lebhafte wie erschreckende Vision: Er sah Frances, allein, verlassen, dem Tode
Weitere Kostenlose Bücher