Adelheid von Lare: Historischer Roman um die Stifterin des Klosters Walkenried (German Edition)
klein und schutzlos, das Erlebte fiel mit aller Grausamkeit über sie her und nahm ihr Bewusstsein vollständig in Besitz. Jetzt konnte sie weinen. Es brach mit Macht aus ihr heraus, sie sank ihrem Vater an die Brust und schluchzte, während das Mädchen noch immer still und unbeachtet hinter ihr stand.
Graf Beringer tätschelte seiner Tochter unbeholfen den Rücken und sah sich Hilfe suchend um. Er murmelte hastig ein paar beruhigende Worte und gab dem in der Nähe stehenden Stallknecht den Befehl, sofort Alwina zu holen. Dann fiel sein Blick auf das Mädchen.
„Wen hast du hier mitgebracht? Ist das … ihre Tochter?“
Adelheid nickte unter Tränen und griff nach ihrer Hand: „Bitte, Vater, darf sie bei mir bleiben? Sie hat doch sonst niemanden!“
Es hätte keinen besseren Moment für diese Frage geben können, der Graf fühlte sich von ihren Tränen verunsichert und hätte wahrscheinlich noch ganz andere Dinge gestattet, wenn sie nur mit dieser Heulerei aufgehört hätte. So nickte er hastig und wandte sich dann an das Mädchen: „Wie nennt man dich?“
Sie sah ihn an, unverwandt und mit diesem rätselhaften, unergründlichen Blick, der Adelheid immer wieder erschaudern ließ, und sie schwieg. Ihre Augen waren groß und so dunkel, dass die Iris nicht von der Pupille zu unterscheiden war. Der Graf wartete und sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. Er war es nicht gewohnt, dass man ihn so offen und furchtlos ansah, ohne ihm die verlangte Antwort zu geben.
„Ich habe gefragt, wie du heißt!“, donnerte seine Stimme plötzlich über den Hof und sowohl Adelheid als auch das Mädchen zuckten zusammen.
„Sie heißt Magdalena“, ließ sich Alwina hinter ihnen vernehmen. Adelheid atmete unhörbar auf. Die alte Amme kam gerade recht, um eine Katastrophe zu verhindern.
„Und warum sagt sie mir das nicht selbst?“
„Offenbar hat sie Angst!“ Alwina watschelte heran und zog die beiden Mädchen in ihre Arme, als wollte sie beide vorm Grafen schützen.
„Sie hat ihre tote Mutter gefunden, der Schock hat ihr die Sprache geraubt“, ergänzte Adelheid leise und schniefte vorwurfsvoll.
„Fortunata ist tot?“ Alwina war offensichtlich sehr erschrocken. „Die Götter mögen uns beistehen!“
Ihr Blick huschte furchtsam zum Burgherren hinüber, doch der schien in Gedanken versunken und hatte sie nicht gehört. Abrupt drehte er sich um und ging mit scharfem Schritt zurück zum Palas. Über die Schulter rief er Alwina zu: „Kümmere dich um sie!“
Den Rest des Tages nutzte Adelheid, um mit Magdalena über das Burggelände zu streifen, in der Hoffnung, sie damit abzulenken. Ihr selbst tat es gut; die vertrauten Menschen und das heimatliche Gebiet vor Augen verblasste wenigstens für einige Zeit das Bild, das sich wie eine schwere Hand auf ihre Seele gelegt hatte und sich immer wieder kurzzeitig in ihr Bewusstsein schob.
Die Nachricht von Fortunatas Tod hatte bereits die Runde gemacht und überall, wo sie hinkamen, begegneten ihnen besorgte und neugierige Blicke. Aber niemand wagte es, die beiden Mädchen anzusprechen. Des Öfteren beobachtete Adelheid dagegen, dass die Mägde sich bekreuzigten, wenn sie vorübergegangen waren.
Adelheid führte Magdalena zuerst zur Vorburg, denn sie wollte der lauten Gesellschaft im Palas aus dem Wege gehen. Sie zeigte ihr den Marstall mit den prächtigen Pferden und hinter dem Schafstall auf der Koppel sahen sie den jüngst geborenen Lämmern zu, wie sie die lustigsten und ungeschicktesten Sprünge vollführten. Es schien, als ahnten die Tiere, dass die beiden Mädchen Aufmunterung gut gebrauchen konnten. Magdalena folgte Adelheid auf Schritt und Tritt, nickte ab und zu, wenn die Ältere ihr etwas erklärte, aber sie sprach kein Wort. Ein einziges Mal zeigte sie jedoch Regung: Am Ententeich neben dem Schafstall sahen sie einer Magd beim Füttern der Gössel zu, als Pferdehufe laut über die Zugbrücke donnerten. Graf Beringer ritt mit seinem Gefolge in Richtung Burgtor. Der Ritter vom Straußberg und seine Knappen folgten dicht auf. Magdalena zuckte zusammen und begann zu zittern, ihre angstgeweiteten Augen verfolgten die Reiter bis zur äußeren Mauer. Adelheid fasste sie beruhigend am Arm.
„Du musst vor ihnen keine Angst haben, sie reiten aus, um die Schuldigen zu suchen. Komm, wir klettern auf die Mauer, dann können wir sehen, wohin sie sich wenden.“ Sie nahm sie an die Hand und zog sie im Laufschritt hinter sich her zur äußeren Mauer. Die Reiter sammelten
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