Adieu, Sir Merivel
voran und führt mich rasch aus den Gemächern der Herzogin und zu einer schmalen Treppe, die nach oben führt.
Es wird kälter, je weiter wir hinaufsteigen, und als wir das oberste Stockwerk erreichen, kann ich den Wind in den Dachziegeln seufzen hören. Und für einen kurzen Augenblick muss ich an den Westturm von Bidnold denken, der mir bei meiner Rückkehr im Jahre 1667 als Einziges wieder überlassen wurde und in dessen Gemäuern ich viele Monate mein Dasein fristen musste. Diesen Wind, der stets und ständig über all meinem Wachen und Schlafen klagte, habe ich nie vergessen können.
Endlich betreten wir einen niedrigen von Lampen erleuchteten Raum, in dem ein kleines Feuer brennt. Auf einem Stuhl sitzt, inmitten von halb beendeten Stickereien, eine Frau mittleren Alters. Ihr Haar, ursprünglich braun, ist mit grauen Strähnen durchzogen. Sie trägt ein graues Gewand.
Bei unserem Eintreten blickt sie auf, und ein mattes Lächeln huscht über ihr Gesicht. Weder steht sie auf noch knickst sie vor dem König. Es scheint, als wisse sie nicht, dass diese Person der König ist. Stattdessen streckt sie uns die Stickerei entgegen, an der sie gerade arbeitet, mit Fäden blauen und goldenen Garns, und sagt: »Die Blumen hier habe ich fast fertig gestickt. Möchtet Ihr schauen? Es fehlen nur noch ein paar unbedeutende Kleinigkeiten.«
»Sehr hübsch«, sagt der König. »Bist du nicht auch der Meinung, Merivel?«
»Fürwahr«, sage ich. »Eine vortreffliche Arbeit.«
»Sieh nur die Sorgfalt. Kein Stich zu lose, keiner zu straff gezogen.«
»Ich sehe es wohl. Welch fabelhafte Sorgfalt.«
»Die Muster sind auf dem Stoff schon vorgegeben«, sagt der König mit leiser Stimme zu mir. »Die Künstler haben sie vorweg mit ihren Stempeln und Farben markiert, so dass sie ihnen nur zu folgen braucht. Was die Künstler mit Blau markiert haben, wird sie mit blauem Garn besticken, und ich habe festgestellt, dass sie niemals davon abweicht. Sie wird nie irgendwo Grün einführen, wo kein Grün ist. Denn sie folgt einem Muster, und es ist das Muster, das ihren Tagen Sinn und Frieden verleiht.«
Darauf weiß ich keine Antwort. Ich betrachte die Frau gedankenverloren, denn sie erinnert mich an jemanden. Es ist etwas in der Art und Weise, wie sie das Haupt über ihre Arbeit beugt und so ruhig auf ihrem Stuhl sitzt, das ich – da bin ich sicher – schon einmal gesehen habe, doch es will mir nicht einfallen, wann und wo.
»Siehst du, wie zufrieden sie ist?«, fragt der König mich flüsternd.
»So scheint es zu sein …«
»Nein. Es ist so. Es trifft, wie ich weiß, zu und steht außer Frage. Ich glaube, die Stoiker nannten diesen Gemütszustand ataraxia , was ›Freiheit von Angst‹ bedeutet. Und wiesehr sehnt man sich nach diesem Zustand. Ich würde wahrhaftig mein Königreich für solch herrlichen Seelenfrieden hergeben. Du nicht auch?«
»Das würde ich, nur dass ich kein Königreich besitze, Sire.«
»Doch, das tust du. Denn du selbst bist dir dein eigenes Königreich, Merivel! Du bist du, mitsamt den Verirrungen deines Herzens und deinen großen Ängsten. Würdest du deine Tage nicht auch lieber auf diesem Stuhl verbringen?«
Ich will gerade sagen, dass ich keinesfalls meine Tage auf so einem Stuhl verbringen und Linnen mit der Nadel durchstechen möchte, als ich plötzlich merke, dass mir die Stimme versagt. Denn mit einem Mal weiß ich, wer diese Frau ist: Sie ist meine einstige Gemahlin Celia.
Mir wird sehr kalt. Ich wende mich zum König, als verlangte es mich nach dem Schutz seiner Arme.
»Sire«, sage ich. »Es ist Celia!«
Er scheint nicht zu hören, betrachtet vielmehr Celia, die sich wieder ihrer Stickerei zuwendet, und zupft gedankenverloren an seinem Schnurrbart.
»Ja«, sagt er endlich. »Es ist Celia.«
»Und doch …«
»Nicht so, wie du und ich sie kannten. Nein. Sie ist wahnsinnig, und das schon seit vielen Jahren.«
»Ach«, sage ich. »Welches Unglück hat sie denn in den Wahnsinn geführt?«
»Mein lieber Merivel, du weißt die Antwort so gut wie ich. Celia hat sich nie von der Enttäuschung erholen können, dass der König von England nicht mehr sein Bett mit ihr teilen wollte.«
Ich bleibe stumm und betrachte aufmerksam die Frau, deren Schönheit mein Leben einst an den Rand des Ruins brachte. Jetzt ist von dieser Schönheit nichts mehr geblieben.
»Ihre Eltern haben sie lange Jahre bei sich aufgenommen«, fährt der König fort. »Doch als sie starben, sorgte ich dafür,dass sie
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