Adiós Hemingway
vollständige Geschichte vom Tod eines FBI-Agenten auf der Finca Vigía hören wollten. Der Hasenzahn musste seinen kleinen Bruder bitten, ihm den 56er Chevrolet Bel Air zu leihen, den chromblitzendsten und verziertesten in ganz Kuba. Das Wunder des aus einem Schrotthaufen wiederauferstandenen Oldtimers, dessen Wert auf mehrere Tausend Dollar geschätzt wurde, verdankte sich dem unermüdlichen Eifer von Hasenzahn dem Jüngeren. An die für Kauf, Reparatur und Verschönerung benötigten Devisen war er in den knapp sechs Monaten gekommen, in denen er als Geschäftsführer einer Dollar-Bäckerei gearbeitet hatte, die eine unerschöpfliche Goldgrube zu sein schien.
Mit vereinten Kräften hatten Mario und Hasenzahn der Ältere den dünnen Carlos aus seinem Rollstuhl gehievt und vorsichtig auf die Kaimauer neben dem spanischen Turm gesetzt, sodass die nutzlosen Beine des Freundes nun über den Felsen baumelten. Die spärlichen Lichter des Dorfes befanden sich in ihrem Rücken, hinter der mit Grünspan bedeckten Büste Hemingways. Die drei genossen die leichte Abendbrise und tranken den Rum direkt aus der Flasche, während El Conde die Geschichte des ermordeten FBI-Agenten erzählte.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte der Hasenzahn mit seiner unerbittlichen Logik, die nach Antworten von ebenso unerbittlicher Logik verlangte.
»Ich glaub, es geht überhaupt nicht weiter«, sagte Mario mit den Resten seines Denkvermögens, die im Alkohol zu ersaufen drohten.
»Das ist das Beste an der ganzen Geschichte«, begeisterte sich der dünne Carlos, nachdem er die letzten Tropfen aus der zweiten Flasche gesaugt hatte. »Als wäre nie was passiert. Kein Toter, kein Mörder, nichts. Das gefällt mir.«
»Aber ich sehe Hemingway jetzt irgendwie anders«, sagte Mario, »ich weiß nicht …«
»Gut, dass du ihn jetzt anders siehst, Conde«, erwiderte der Dünne. »Schließlich war der Kerl Schriftsteller, und das ist das, was dich interessiert … Als Schriftsteller, nicht als Polizist oder Buchhändler oder sonst was … Du bist doch Schriftsteller, oder?«
»Da bin ich mir nicht so sicher, Alter. Vergiss nicht, es gibt viele Arten von Schriftstellern …« Er begann aufzuzählen, wobei er alle verfügbaren Finger zu Hilfe nahm. »Die guten und die schlechten Schriftsteller, Schriftsteller mit und ohne Würde, Schriftsteller, die schreiben, und Schriftsteller, die sagen, sie könnten schreiben, die Arschlöcher und die Anständigen …«
»Und wozu zählst du Hemingway?«, erkundigte sich der Dünne.
Mario entkorkte die dritte Literflasche und trank einen kleinen Schluck. »Ich glaube, er war von allem etwas«, sagte er schließlich.
»Mir stinkt an ihm, dass er nur das gesehen hat, was er sehen wollte«, warf der Hasenzahn ein. »Das da zum Beispiel«, er drehte sich um und zeigte auf die Lichter, »er hat gesagt, das wär ’n Fischerdorf. Ja, Scheiße! Keiner in Kuba behauptet, dass das da ein Fischerdorf ist. Und deswegen ist Santiago auch ganz bestimmt kein Fischer aus Cojimar.«
»Da hast du Recht«, stimmte Carlos ihm zu. »Der Typ hat einen Scheißdreck kapiert. Oder er wollte nichts kapieren, wer weiß das schon … Sag mal, Conde, weißt du eigentlich, ob er sich mal in ’ne Kubanerin verliebt hat?«
»Keine Ahnung.«
»Und der wollte über Kuba schreiben?« Der Hasenzahn wurde richtig wütend. »Der alte Schwätzer!«
»Die Literatur ist eine einzige große Lüge«, sinnierte El Conde.
»Der redet nur noch Scheiße«, mischte sich der dünne Carlos ein und legte seinem Freund die Hand auf die Schulter.
»Also, damit ihrs wisst, ich werde um die Aufnahme in den Club der Hemingwayaner Kubas bitten«, verkündete Mario.
»Was soll das denn sein?«, fragte der Hasenzahn.
»Eine von zweitausend garantierten Möglichkeiten, seine Zeit mit irgendeinem Scheiß totzuschlagen. Aber ich finde das toll. Kein Vorsitzender, keine Statuten, keiner, der dir irgendwas vorschreibt. Und man kann kommen und gehen, wann man will.«
»Dann finde ich das auch toll«, überlegte der Hasenzahn. »Ich glaub, ich meld mich auch bei denen an. Es lebe der Club der Hemingwayaner Kubas!«
»Hör mal, Conde«, sagte Carlos, »bei der ganzen Geschichte hast du eine Sache völlig unter den Tisch fallen lassen …«
»Was denn, Bär?«
»Den Slip von Ava Gardner.«
El Conde sah den Dünnen missbilligend an. »Ich dachte, du kennst mich besser.«
Mit einem triumphierenden Lächeln hob er den Hintern von der Mauer und fasste in die
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