Adorkable - Zwei, die sich hassen und lieben
Jahre ungesehen in einem Umschlag verstaut worden waren, denn Andrew wurde immer blasser und zerbrechlicher, mühte sich ein fahles Lächeln für die Kamera ab, und dann kam sein elfter Geburtstag, der sein letzter sein sollte, in einem Krankenhausbett, umgeben von Ballons und sehr beunruhigend wirkendem Krankenhausequipment. Ich glaube, er starb ein oder zwei Wochen später, war mir aber bei den Details nicht so sicher.
»Scheiße, Jeane, das tut mir so leid! Ich hätte ganz bestimmt keine dämlichen Witze gerissen, wenn ich das gewusst hätte«, sagte Michael düster, und ich fühlte, wie er mich ansah, ja geradezu anstarrte. »Bist du okay? Ich meine, es muss wirklich sehr schwer für dich sein, sich diese Fotos anzusehen …«
»Ja, ich denke schon …« Ich zuckte mit den Schultern. »Natürlich ist es sehr traurig, dass er gestorben ist. Es ist furchtbar, aber – ich war nicht dabei. Das alles ist meiner Familie passiert, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass die drei sich davon nie wieder richtig erholt haben. Vielleicht hat Bethan es geschafft, aber dann wiederum denke ich manchmal, dass sie sicherlich nicht siebzig Stunden in der Woche als Assistenzärztin auf der Pädiatrie arbeiten würde, wenn ihr älterer Bruder nicht an einer seltenen Form von Leukämie gestorben wäre, als sie sieben war.«
»Dein Vater, der sieht einfach so furchtbar traurig aus. War das schon immer so?«
Die meisten anderen Leute würden es nicht wagen, zu diesem traurigen und sehr persönlichen Thema Fragen zu stellen, aber Michael dachte gar nicht an so was. Und mir wurde plötzlich bewusst, dass ich noch nie, niemals zuvor mit jemandem über Andrew gesprochen hatte. Von Zeit zu Zeit erzählte Bethan mir eine Geschichte von Andrew, aber wenn ich versuchte, ihr Fragen über ihn zu stellen, wie zum Beispiel: »Habt ihr euch manchmal gestritten? Hatte er Angst im Dunkeln? Waren Pat und Roy damals anders, also, wart ihr alle richtig glücklich, bevor er so krank wurde?«, kamen wir nie sehr weit, weil sie immer anfing zu weinen. Obwohl es jetzt schon über zwanzig Jahre her war, weinte und schluchzte sie so herzzerreißend, als sei alles erst gestern passiert.
Ich hatte auch noch nie zuvor mit anderen über Andrew gesprochen, weil ich immer gedacht hatte, sein Tod hätte nichts mit mir zu tun. Doch wenn ich darüber nachdachte, hätte es mich ohne ihn wahrscheinlich gar nicht gegeben.
»Ja«, antwortete ich schließlich. »Er war schon immer so. Pat, meine Mutter, ist auch so, aber noch schroffer.«
Michael setzte sich ans Fußende seines Bettes, und ich schwang mich auf dem Stuhl herum, sodass wir uns ansahen, denn ich hatte den Eindruck, dass wir mit unserem Gespräch über dieses Thema noch nicht fertig waren.
Ich hatte recht. »Das muss aber nicht sehr lustig gewesen sein, in einer Familie aufzuwachsen, in der alle immer traurig waren«, bemerkte Michael beiläufig. Hätte er mich mit Fragen bombardiert und unterstellt, dass meine Mum und mein Dad mich seelisch zerstört hätten, wäre ich bestimmt in die Defensive gegangen und wütend geworden und abgerauscht, vielleicht sogar hinausgestürmt, aber das tat er nicht und ich tat es auch nicht.
»Es war ja nicht so, dass sie den ganzen Tag weinten oder sich beklagten, wie traurig sie seien«, erklärte ich. »Es war vielmehr so, als seien sie gar nicht richtig da . Irgendwie abwesend . Was für mich in Ordnung war. Ich hab mich sozusagen selbst hergestellt.«
»Na ja, ich hatte schon halb den Verdacht, dass du wohl von Wölfen aufgezogen wurdest«, sagte Michael mit einem vorsichtigen Lächeln. »Wölfen mit einer Vorliebe für Süßigkeiten.«
»Versteh mich nicht falsch, eine ganze Menge Leute hatten eine viel schlimmere Kindheit als ich, aber …« Ich stockte, denn einige Sachen sind einfach schwer auszusprechen, sogar obwohl man schon sehr viel darüber nachgedacht hat oder obwohl man sich wirklich bemüht hat, überhaupt nicht daran zu denken.
Michael nahm meine Hand und zeichnete mit seinem Zeigefinger Kreise auf meiner Handfläche. »Aber was?« Dann hob er meine Hand, sodass er die Stelle, an der sein Finger gewesen war, küssen konnte, und ich fragte mich, ob Scarlett wohl Felsbrocken in ihrem Kopf gehabt hatte, als es um die Frage ging, wer der bessere Freund sei, Barney oder Michael, denn für mich war Michael eindeutig und unzweifelhaft der Sieger in allen Kategorien. Nur bei Guitar Hero stach Barney ihn aus (Ernsthaft! Darin konnte ihn keiner schlagen.)
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