Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
Blick von Julia lässt ihn noch weiter zurückweichen.
»Ich weiß, dass ich schlecht aussehe«, sagt sie mit spröder Stimme. »Ich kriege nicht viel Schlaf. Tim hat mir immer mit dem Baby geholfen. Wohl viel mehr als die meisten Männer. Und Tim junior schläft überhaupt nicht gut.«
»Es tut mir leid, Julia.«
»Wirklich?« Ihre leeren Augen sind auf meine gerichtet. »Ich bin hergekommen, weil du etwas wissen sollst: Ich wollte nicht, dass Tim das tat, was zu seinem Tod führte. Aber er ließ sich nicht davon abhalten. Und du sollst wissen, dass er es für seinen Vater getan hat – und für dich.«
Eine heiße Welle wogt über mein Gesicht hinweg. »Für mich?«
Sie nickt. »Ja. Tim hat dich in den Himmel gehoben. Ähnlich wie viele andere. Er vergaß nie, wie enge Freunde ihr als Kinder wart. Als das aufhörte, gab er sich die Schuld. Er glaubte, dich irgendwie enttäuscht zu haben. Du hattest großen Erfolg, und er teilte Karten auf einem Casinoschiff aus. Ich versicherte ihm, das sei ehrliche Arbeit und er brauche sich nicht zu schämen, aber er konnte nicht anders. Und nachdem er herausfand, was wirklich auf dem Schiff vor sich ging, war er der Meinung, unbedingt etwas unternehmen zu müssen.«
»Es tut mir wirklich leid, Julia. Tim war ein guter Mann, und ich wünschte, er wäre in nicht in diese Sache verwickelt worden.«
»Ich möchte nur wissen, ob es irgendeinen Nutzen gehabt hat«, sagt sie. »Denn mein Sohn wird für den Rest seines Lebens keinen Vater haben. War es die Sache wert, Penn? Hat Tim durch seinen Tod wenigstens etwas bewirkt?«
Als ich noch nach einer Antwort suche, setzt Julia hinzu: »Und was ist mit dir? Hast du dein Versprechen gehalten?«
Während ich versuche, mich zu erinnern, was ich Tim in jener Nacht versprochen habe, wendet seine Witwe sich ab und geht zu seinem Grab zurück, ohne auf eine Antwort zu warten.
»Was war das denn?«, fragt Labry, der sich hinter mir nähert.
»Hast du etwas mitbekommen?«
Er schüttelt den Kopf. »Sie hat ziemlich deutlich gemacht, dass es ein Privatgespräch war.«
Ich atme tief durch. »Lass uns nach dort drüben gehen, weg von der Familie.«
Wir machen ein paar Schritte den Weg hinauf und steigen über mehrere Stufen auf einen von Zedern beschatteten Hügel. Wie die meisten Namen auf diesem Friedhof kenne ich auch den, der in die Steine an dieser Grabstätte eingemeißelt ist. Eine kühle, aber milde Brise weht über den Hügel, und die Sonne scheint hell genug, um die Ziegel der Mauer um das Grab zu wärmen. Ich lehne mich zurück und betrachte Paul Labry.
Während die meisten Katholiken in Natchez Iren oder Italiener sind, ist Paul französischer Herkunft. Durch Heirat ist er mit den Akadiern verwandt, die von den Spaniern gezwungen wurden, in der Nähe der nun berüchtigten Morville Plantation zu leben. Labry hat dunkle Augen und dunkle Haut und sieht immer noch gut aus, obwohl er ein paar Haare verloren und an Gewicht zugelegt hat. Er wirkt eher wie ein alternder Dichter als wie der Geschäftsführer eines Bürobedarfsunternehmens, doch es erstaunt mich immer wieder, wie wenig manche Menschen ihrem Berufsstereotyp entsprechen.
»Paul, ich möchte dir etwas sagen, das ich noch keinem anderen anvertraut habe.«
»Ich dachte, du wolltest mir eine Frage stellen.«
»Das auch. Ich habe beschlossen, als Bürgermeister zurückzutreten.«
»Was?« Er mustert mich von Kopf bis Fuß. »Du bist doch nicht krank?«
Tim hat mich in der Nacht, als wir uns hier trafen, das Gleiche gefragt. »Nein. Meine Gründe sind persönlicher Art und haben hauptsächlich mit Annie und Caitlin zu tun.«
Paul traut seinen Ohren anscheinend immer noch nicht. »Tut ihr beide euch wieder zusammen? Du und Caitlin?«
»Wenn sie mich haben will.«
»Machst du Witze? Du weißt doch, dass sie dich liebt.«
»Nicht genug, um hier mit mir zu leben.«
Er schürzt die Lippen, während er sich die Sache überlegt. »Das ist es also? Du möchtest in Natchez bleiben, kannst es aber nicht?«
»Nein. Es wird Zeit für mich, dass ich weiterziehe. Und ich rede jetzt mit dir, weil ich möchte, dass du bei der Neuwahl als Bürgermeister kandidierst, wenn ich weg bin.«
Paul tritt zurück; sein Gesicht ist bleich geworden. »Meinst du es ernst?«
»Du hättest schon vor zwei Jahren antreten müssen. Ich hätte nicht kandidieren sollen.«
»Das ist dummes Zeug.«
»Nein. Du bist der richtige Mann für den Posten, Paul. Du solltest deine Kandidatur am Tag meines
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