Adrienne Mesurat
Besuch für sie da war, vor etwa einer Stunde, aber Himmel auch, ich dachte, Mademoiselle sei weggegangen.«
»Wer, Désirée?«
Désirée deutete mit der Schulter zur Straße hinaus.
»Die Schwester des Doktors.«
Sie sagte Doktor, mit einem Tonfall, aus dem Verachtung herausklang.
»Mademoiselle Maurecourt!« rief Adrienne.
»Ich habe schon geglaubt, daß sie überhaupt nicht mehr gehen will. Sie ließ nicht locker, ließ nicht locker. Sie hat gesagt, sie kommt wieder.«
»Wann?«
»Hat sie mir nicht gesagt«, erwiderte Désirée. Und mit ihrer dünnen Stimme, die immer nur zu sprechen schien, um einer Frage den Weg zu ebnen, fügte sie hinzu: »Das sind alles Leute, die Ihr Herr Vater gar nicht mochte.«
Aber Adrienne hatte diese letzten Worte nicht gehört. Sie sprang hoch und trat auf die Köchin zu.
»Désirée«, sagte sie nach kurzem Zögern, »ich werde den ganzen Tag zu Hause bleiben. Wenn die Dame wiederkommt, rufen Sie mich sofort, haben Sie verstanden? Es ist wichtig.«
Plötzlich schien sie ihre Kräfte wiedergewonnen zu haben und redete mit einer Lebhaftigkeit, die sie nicht zu verbergen suchte.
»Sind Sie sicher, daß sie gesagt hat, sie kommt wieder?«
»Mademoiselle kann ganz beruhigt sein. Liegt Mademoiselle denn so viel daran, sie zu sehen? Es geht mich natürlich nichts an, aber es gibt nichts Schlechteres als diese Frau. Am Sonntag allerdings, in der Messe, da muß man sie sehen, wenn sie nach der Hostie schnappt… Aber Mademoiselle geht ja nicht zur Messe.«
»Schon gut«, sagte Adrienne, die sie fortwünschte, aber trotzdem gebannt zuhörte.
»Ich muß schon sagen, Mademoiselle ist kein bißchen neugierig«, begann Désirée von neuem und wiegte den Kopf. »Sie wissen rein gar nichts. Das ist Ihre Sache. Aber wirklich, diese Mademoiselle Maurecourt hat mich vorhin derart in Rage gebracht, am liebsten wäre ich ihr grob gekommen. Sie macht immer so ein Gesicht…«
»Was für ein Gesicht?« fragte Adrienne gedankenlos.
»Sie ist eingebildet«, erwiderte Désirée gehässig. »Und ihrem Bruder darf man auch nicht zu nahe kommen. Sie ist eifersüchtig! Als ob man ihn haben wollte, diesen armen Doktor. Man könnte meinen, die beiden sind miteinander verheiratet, nur scheint es ihm keinen großen Spaß zu machen, daß sie immer ein Auge auf ihn hat…«
Adrienne wurde bleich.
»Désirée, was sagen Sie da?« fragte sie mit erstickter Stimme.
»Mademoiselle lebt in einem Traum«, fuhr Désirée mit einem mitleidigen Schulterzucken fort. »Und sie bildet sich ein, andere tun das auch. Herrgott noch mal, Mademoiselle, verstehen Sie denn nicht, wenn man Geheimnisse hat wie Sie, vertraut man sie nicht Frauen wie Madame Legras an!«
»Geheimnisse?« flüsterte Adrienne.
Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben und ließ sich auf das Bett fallen.
»Aber natürlich«, sagte Désirée. »Ha! Mademoiselle kann von Glück reden, an eine Frau wie mich geraten zu sein. Ich kann jederzeit sagen, daß es nicht wahr ist.«
Sie unterbrach sich und wartete darauf, daß Adrienne sie um eine Erklärung bitten würde, aber das junge Mädchen blieb stumm. Da fuhr sie mit ruhigerer Stimme fort:
»Sicher weiß Mademoiselle, was ich meine. Es ist wahrhaftig ein Segen für Sie, daß ich hier im Haus Köchin bin und daß ich ein gutes Mundwerk habe und es mit den Klatschweibern in der Stadt noch allemal aufnehme.«
»Die Klatschweiber, Désirée?« fragte Adrienne.
»Ja, die Klatschweiber vom Markt, was sonst, Mademoiselle scheint nicht zu begreifen. Oh! Keine Sorge, darüber sprechen wir noch. Auf jeden Fall will ich Mademoiselle schon jetzt einen guten Rat geben. Damit man wenigstens sagen kann, ich hätte mir Ihre Dankbarkeit redlich verdient. Also, Mademoiselle, gehen Sie vorläufig lieber nicht aus dem Haus. Das ist das Beste, was Sie tun können. Danach sehen wir weiter. Über Sie kursieren nämlich alle möglichen Gerüchte.«
Adrienne stieß einen Schrei aus und sprang auf.
»Mein Gott, Désirée, schweigen Sie«, sagte sie. »Ich werde Ihnen Geld geben. Hören Sie?«
»Ja, ja, schon gut, Mademoiselle«, antwortete Désirée ohne jede Eile.
Adrienne packte sie am Arm; sie zitterte so heftig, daß sie kaum sprechen konnte.
»Désirée«, sagte sie endlich, »ich kann mich doch auf Sie verlassen, nicht wahr? Ich werde Ihnen Geld geben, hundert Franc, zweihundert Franc. Was haben die Leute Ihnen gesagt, Désirée?«
»Was sie mir gesagt haben? Aber alle Welt erzählt doch, daß Ihr Herr
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